Seine Finger ballten sich an seiner Seite zu Fäusten, die Kiefer pressten sich so fest aufeinander, dass sie die einzelnen Muskelstränge sehen konnte. Während seine Augen … nicht die eines Menschen waren.
Ohne den Blick von ihm zu wenden, machte sie einen vorsichtigen Schritt nach hinten. Nur zwei Schritte bis zur Tür. Nachdem sie tagelang in dem Raum auf und ab gelaufen war, kannte sie die Abmessungen.
„Gehe nicht. Bitte.“ In einer Geste, die diese Worte unterstreichen sollte, hob er eine Hand.
„Nenne mir einen Grund, warum ich dir trauen sollte. Du bist nicht … Irgendetwas stimmt nicht mit dir.“ Warum rede ich mit ihm? Das ist ein Fehler. Sie musste verschwinden. Diesen Raum verlassen, bevor er die Beherrschung verlor.
„Weil ich hier bin, um dich zu retten.“ Die Worte klangen pathetisch. Sie wollte lachen. Es gab nichts, wovor ausgerechnet er sie retten müsste, aber etwas ließ sie innehalten. Die Worte klangen, als spräche er die Wahrheit. Was unsinnig war, denn sie brauchte keine Hilfe. Ihr Onkel würde in wenigen Tagen zur Vernunft kommen und bedauern, was er getan hatte. Es war nicht richtig, sie gegen ihren Willen festzuhalten, aber ihr drohte keine Gefahr. Ganz sicher nicht.
Warum also glaubte sie diesem Fremden?
Torsten Halders Energie war stärker, als er angenommen hatte. Alexander merkte, wie ihm die Kontrolle entglitt. Schlimmer noch, er begann wie der Banker zu denken. Die Gedanken verursachten ihm Übelkeit. Er sah das Kalkül, das hinter all dem steckte, wusste welche Vorkehrungen Sariels Onkel getroffen hatte, um an die Substanz zu kommen, die er benötigte. Aber das war nicht das Schlimmste. Mit einem Schaudern verdrängte er das Bild. Nein!
Erstaunlicherweise erlangte er durch dieses eine Wort die Kontrolle zurück. Zumindest genug, um Halders Energie zurückzudrängen. Er verbannte sie in den hintersten Winkel seines Bewusstseins. Er würde sie benutzen. Sie kontrollieren. Aber er würde es nicht zulassen, dieser Macht erneut zum Opfer zu fallen.
Ein Blick zu Sariel hin zeigte, was er befürchtet hatte. Sie sah ihm den Kampf an, der in ihm tobte. Sie hatte Angst vor ihm. Vielleicht war es besser so. Wenn sie Angst hatte, würde sie vorsichtig sein, ihn im Auge behalten. Sollte ihm die Kontrolle entgleiten …
Nein! Das werde ich nicht zulassen!
„Wovor willst du mich retten?“ Die Frage holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Sie sah ihn an, als wolle sie in seine Seele blicken. Er musste seine Antwort gut überlegen, damit sie ihm glaubte.
Bevor er ihr eine Erklärung liefern konnte, geschah etwas, womit er nicht gerechnet hatte. Schritte näherten sich. Torsten Halder. Der Banker hatte sich schneller von dem Energieentzug erholt, als er für möglich gehalten hatte. Er war nicht allein, mindestens zwei Männer begleiteten ihn. Seine Bodyguards.
„Schnell. Wir müssen weg von hier.“
„Warum?“
Die Schritte kamen näher. Alexander konnte Halders Aura spüren. Der Banker war wütend. Mehr noch. Er war rasend. Wenn sie nicht sofort von hier verschwanden, würde Sariel diese Begegnung nicht überleben. Halder hatte eine Entscheidung getroffen. Sie sollte noch heute sterben. Der Banker hatte beschlossen, dass ihr Beitrag zu der schwarzen Hostie wichtiger war, als mit ihr ein Kind zu zeugen. Er war nicht mehr länger bereit seine Pläne aufzuschieben.
„Sie kommen. Dein Onkel und seine Männer.“
„Gut! Ich muss mit ihm reden. Ihm klarmachen, dass er kein Recht hat …“
Mit einer Handbewegung unterbrach er ihren Redefluss. „Nicht jetzt.“
„Sage mir nicht, was ich zu tun habe. Es reicht, wenn mein Onkel denkt, er könne über mein Leben bestimmen.“
Nur noch wenige Meter, dann wären sie hier. Er konnte die Vibrationen spüren. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihren Willen zu beugen. Noch bevor er seine Hand erneut ausstreckte, bereute er, was er tat.
Das Sonnenlicht war so hell, dass sie die Augen zusammenkneifen musste. Es strömte ungehindert durch eine riesige Fensterscheibe. So muss es aussehen, wenn man gestorben und in den Himmel gekommen ist , dachte sie, während sie sich aufrichtete und die Umgebung aufmerksam musterte.
Sie befand sich in einem seltsamen Raum. Hier fehlten rechte Winkel und glatte Wände, es war wie in einer luxuriösen Höhle. Dunkelgraues Schiefergestein rahmte das Gemach ein. Neugierig sah sie sich weiter um. Auf dem Fußboden sorgten bunte Teppiche für Kontrast zu dem grauen Stein. Ein Sessel und ein Tisch, beides aus Ästen hergestellt, bildeten eine Sitzgruppe. Das Zimmer war behaglich, verströmte aber eine Atmosphäre, als sei es seit Langem nicht mehr benutzt worden.
Erneut suchte ihr Blick die Glasfront, die eine atemberaubende Aussicht bot. Wie in einem Adlerhorst konnte sie von ihrem Bett aus das Panorama der Bergwelt genießen, das sich in seiner ganzen Pracht vor ihr ausbreitete. Schneebedeckte Gipfel und ein eisblauer Himmel erstreckten sich in einer unendlichen Weite.
Es dauerte mehrere Minuten, bevor sie es schaffte, sich von dem Anblick loszureißen und die Gedankenfetzen, die durch ihren Kopf wanderten, zusammenzusetzen. Alexander. Die Hand, die er ausstreckte. Und dann Dunkelheit.
Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Das Bett, in dem sie gelegen hatte, war riesig. Weiche Kissen wollten sie dazu verführen, länger zu verweilen. Die Decke schmiegte sich an ihren Körper, als wolle sie sie ebenfalls überreden, zu bleiben und die Aussicht zu genießen.
Sie widerstand der Versuchung. Stattdessen ließ sie ein vertrautes Gefühl zu. Wut. Schon wieder hatte ein Mann seinen Willen über den ihren gestellt. Alexander hatte sie in eine Ohnmacht sinken lassen. Sie wusste nicht, wie er das geschafft hatte. Aber sie war sicher, er hatte sie in das schwarze Loch fallen lassen, als er mit seiner Hand auf ihren Kopf deutete. Danach musste er sie aus dem Haus ihres Onkels gebracht haben.
Wie hat er das geschafft, ohne von meinem Onkel daran gehindert zu werden? Torsten Halder mit seinen Bodyguards hätte in der Lage sein müssen, ihn aufzuhalten. Und dann war da noch Rosco.
Die Wut wurde von etwas anderem verdrängt. Angst. Dieser Mann hatte sie entführt. Auch wenn die Umgebung luxuriös war, so konnte dies nur eines bedeuten: Ihr Leben war in Gefahr. Ihre Muskeln, die eben noch bereit gewesen waren, ihren Körper mit einem Satz aus dem Bett zu befördern, gaben ihren Dienst auf. Sariel fiel in die Kissen zurück und ergab sich der Sturzflut der Gefühle, die über sie hinwegspülte. Es war seltsam. Nach dem Tod ihrer Eltern war sie in ein Vakuum geflüchtet, das sämtliche Emotionen aussperrte. Erst in den letzten Tagen hatten es zwei Gefühle geschafft, diese Mauer zu durchdringen: Wut und Angst.
Die Wut konnte ihr nützlich sein. Mit einem tiefen Atemzug versuchte sie, die Panik aus ihrem Kopf zu vertreiben. Was auch immer dieser Mann mit ihr vorhatte, sie würde es ihm nicht so leicht machen, wie er dachte. Sie war bereit zu kämpfen.
Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett. Es wurde Zeit, Alexander zu konfrontieren.
Wenn sie geglaubt hatte, die Aussicht aus ihrem Zimmer sei atemberaubend, so wurde sie schnell eines Besseren belehrt. Der Raum, den sie nun betrat, war etwa zehnmal so groß. Die Felsdecke wölbte sich in einem hohen Bogen über ihrem Kopf, aber das war es nicht, was ihren Blick festhielt. Die gesamte vordere Front des Raumes wurde von fast zwanzig Meter breiten Panoramafenstern dominiert. Ohne sich dessen bewusst zu sein, verharrte sie und sog das Bild in sich auf.
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