Höchste Zeit, um diese ungastliche Zelle zu verlassen.
Alexander war zittrig auf den Beinen, als er aufstand und sich in die Mitte des Raumes stellte. Aber er wusste, er hatte genügend Lebenskraft gesammelt. Seine Verwandlung in Rauch würde gelingen. Gerade so.
Als Ziel wählte er die Sahara. Dort, inmitten der Wüste, befand sich eines seiner Häuser. Gebaut aus Steinblöcken, die er dem alten römischen Fort Tisavar entwendet hatte. Damals war die römische Befestigung bereits eine Ruine, die verlassen den Rand der Sahara säumte. Er hatte Jahre gebraucht, um aus den Steinen eine Behausung zu formen. Die viereckige Struktur schlang sich um einen Innenhof, dessen Mitte ein Brunnen schmückte. Während draußen die Sonne ein helles, in den Augen brennendes Licht verbreitete, herrschte innen ein schattiges Halbdunkel.
Die Räume mit ihren weiß gekalkten Wänden boten Zuflucht vor der gleißenden Hitze. Bunte Kissen und Diwane sorgten für Bequemlichkeit.
Er liebte diesen Ort. Hier fühlte er sich in seinem Element, geschützt durch die unendliche Weite der Sahara, ihrer tödlichen Kargheit und Menschenfeindlichkeit.
Er würde ein paar Stunden dort bleiben, so lange, bis er seine Kräfte regeneriert hatte, und dann zurückkehren, um Sariel in Sicherheit zu bringen. Der Gedanke, sie zurückzulassen, gefiel ihm nicht, aber er war noch nicht stark genug, um ihr jetzt schon helfen zu können.
Das Bild der flimmernden Glut vor Augen, die die Wüste zu dieser Tageszeit erfüllen würde, löste er sein stoffliches Sein auf.
Der Aufprall war heftig und raubte ihm für einen Augenblick den Atem. Die unsanfte Landung bewirkte eine abrupte Transformation in seinen menschlichen Körper.
Er lag auf dem Boden … auf … einem Teppich?
„Beeindruckend.“ Ohne aufzusehen, schrieb Torsten Halder in ein Journal. „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so schnell in der Lage sein würden, die Kälte zu überwinden.“ Der Banker hob den Kopf und streifte Alexander mit einem Blick, der vollkommen emotionslos war.
„Setzen Sie sich.“ Mit einer knappen Geste zeigte Halder auf einen Sessel, der vor seinem Schreibtisch stand. Alexander hatte sich in Halders Bibliothek materialisiert. Ein Fehler, der nicht hätte passieren dürfen. Wenn es denn ein Fehler war …
Der Raum war vollkommen in Weiß gehalten. Die Farbe strahlte hell genug, um in den Augen zu schmerzen. Wären nicht die Bücher und DVDs gewesen, die die Wandregale füllten, hätte er sich wie in einem Vakuum gefühlt.
Noch immer erschöpft von der Kraftanstrengung, stand Alexander auf, versuchte das Zittern seiner Beine zu unterdrücken und bewegte sich auf den Sessel zu. Dann setzte er sich und unterzog den Banker einer eingehenden Musterung.
Halder war etwa sechzig Jahre alt. Seine stahlgrauen Haare passten zu den Augen, deren innere Kälte keine Gefühle preisgab. Seine Haltung ließ auf einen militärischen Hintergrund schließen. Sein Körper war trotz seines fortgeschrittenen Alters schlank und durchtrainiert. Alles an ihm verriet ein Übermaß an Disziplin.
„Man begegnet nur selten einem Ifrit, der … wie soll ich es ausdrücken? …, dumm ist?“
„Dumm?“ Noch während Alexander dieses Wort wiederholte, breitete sich die Erkenntnis in ihm aus. Der Banker hatte recht. Der Fluchtversuch, und dann die Falle, in die er unvorbereitet getappt war - er hatte sich wie ein Tölpel benommen.
„Wie schön. Selbsterkenntnis stärkt den Charakter.“ Der Spott war nicht zu überhören. Halder spielte mit ihm. Das Bild einer Katze schob sich in Alexanders Gedanken. Einer Katze, die mit einer Maus spielte. Wie hatte ihm ein solcher Fehler unterlaufen können?
Wieder unterbrach der Banker seine Gedanken. „Sie wundern sich, warum Sie hier sind. Nicht wahr?“
Statt einer Antwort nickte Alexander. Er würde Halder nicht verraten, was er wusste.
„Vielleicht mag ich es nicht, wenn man mich töten will“, sinnierte der Banker, lehnte sich in seinem Sessel zurück und maß Alexander mit seinem Blick.
„Das ist nicht der wahre Grund“, murmelte Alexander. Sein Kopf wurde schwer, sein Körper wurde wie von Bleigewichten nach unten gezogen. Es war anstrengend, einen klaren Gedanken zu fassen. Trotzdem schaffte er es, an einer Gewissheit festzuhalten. Sein Eindringen in Torsten Halders Gedankenwelt musste sein Geheimnis bleiben.
„Oh nein. Nicht so schnell.“ Ein schwacher Stromschlag fuhr durch seinen Körper. Energie. Nicht genug, um ihn zu kräftigen, doch so viel, um zu verhindern, dass die Dunkelheit gewann.
„Ich habe Ihre Kräfte überschätzt. Wie dumm von mir.“ Der Banker lachte, aber Alexander konnte dem nichts entgegensetzen. Außer einer Frage:
„Was wollen Sie von mir?“
Statt Worte ließ Halder Bilder in seinem Kopf entstehen. Visionen, die einen Teil seiner Pläne so deutlich zeigten, als würde Alexander sie auf dem Fernseher verfolgen. Natürlich würde er ihn umbringen. Zuvor aber würde er sich jede seiner Fähigkeiten aneignen. Das Wichtigste aber zeigte Halder ihm nicht: Sein Plan, eine schwarze Hostie zu kreieren, sollte wohl das Geheimnis des Bankers bleiben.
Es mussten Stunden vergangen sein, bis er es schaffte, die Augen zu öffnen. Wie Bleigewichte lagen die Lider auf den Pupillen. Er benötigte seine ganze Kraft, um wieder zu sehen. Was er erblickte, war nicht überraschend. Er befand sich in seiner Zelle, dem winzigen Raum, aus dem er für kurze Zeit entkommen war. Sehr weit hatte ihn sein Fluchtversuch nicht gebracht.
Die Nacht war die Hölle gewesen. Wortwörtlich. Halder hatte es geschafft, dass Alexander wünschte, nie geboren zu sein. In den hundert Jahren, die er auf der Erde war, hatte er nie solchen Schmerz erfahren. Nie eine solche Angst verspürt. Warum auch? Ein Ifrit zu sein, hatte viele Vorteile, und einer davon war, dass er seine körperliche Gestalt nach Wunsch verändern konnte. Krankheiten sind einem Ifrit fremd. Sobald ihn ein körperliches Unwohlsein beschlich, brauchte er nichts weiter zu tun, als sich in Rauch aufzulösen. Danach materialisierte er sich und setzte seinen Leib wieder in perfekter Harmonie zusammen.
Zum ersten Mal in seinem Leben war dies nicht möglich. Halders Gift hatte ihn dieser Fähigkeit beraubt. Der Banker hatte es langsam injiziert. Jeder Tropfen hatte geschmerzt.
„Das wird Ihnen für einige Zeit die Lust nehmen, sich unsichtbar zu machen oder in Rauch aufzulösen. So leid es mir tut.“
Die Worte hallten in seinem Kopf wider. Der Spott hinterließ einen bitteren Nachgeschmack. Und noch etwas. Hass.
Ich werde ihn töten!
Die Gewissheit nahm etwas von dem Schmerz, den das Gift hinterlassen hatte. Er wusste nicht, wie er es schaffen würde, aber die Machtdemonstration, die seinen Willen brechen sollte, hatte das Gegenteil bewirkt. Anstatt Alexander zu zerstören, hatte der Banker erreicht, dass der Ifrit fokussierter war als jemals zuvor.
Er war zu schwach, um mehr als seine Augen zu bewegen, aber das reichte aus, um seine Zelle erneut in Augenschein zu nehmen. Nichts hatte sich verändert. Noch immer befand er sich in einem kleinen Raum, der von Betonwänden umgeben war. Kein Fenster unterbrach die glatte Oberfläche der Mauern. Selbst die Tür ihm gegenüber war ohne Fugen in das Gemäuer eingefügt. Kein Lichtstrahl drang hinein. Es gab keine Spalten, keine Risse im Mauerwerk, nichts als die kalte, glatte, weiße Betonoberfläche.
Mit einem Seufzen schloss er die Augen, konzentrierte sich darauf, seine Umgebung mit den Sinnen abzutasten. Und dann endlich entdeckte er etwas, was ihm zuvor entgangen war. Energiefäden durchzogen den Raum. Manche waren mehrere Jahrzehnte alt, andere nur einige Stunden. Viele der Energielinien stammten von Halders Opfern. Seelen, die er ebenso wie Alexander gefoltert hatte. Ihre Überreste sprachen eine deutliche und zugleich erschreckende Sprache. Die letzte Nacht war angenehm im Vergleich zu dem gewesen, was die Zukunft für Alexander bereithielt.
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