„Was ist passiert?“ Seine Stimme klang rau, als er diese Worte flüsterte. Angst jagte einen Schauer über seinen Rücken. Hatte es Halder trotz der starken Schutzzauber, die diesen Ort umgaben, geschafft, zu ihr vorzudringen. Hatte er …?
„Nichts. Nichts ist geschehen.“ Ihr Blick war leer. Die Worte mechanisch. Ganz so, als sei es ihr egal, ob sie glaubwürdig waren oder nicht.
Er setzte sich neben sie. Wollte ihr etwas von seiner Körperwärme abgeben, um sie aus der Erstarrung zu lösen, aber sie bemerkte ihn nicht. Ihre Augen blickten starr geradeaus.
„Was bin ich?“ Sie sprach, ohne ihn anzusehen, fixierte die Berggipfel, als könne sie dort die Antwort finden. Erst als er nicht antwortete, sah sie ihn an.
„Du weißt es. Nicht wahr?“
Alexander war sich nicht sicher, was er auf diese Frage antworten sollte. Natürlich wusste er, was sie war. Aber war es ratsam, ihr die Wahrheit zu sagen? Sariel sah aus wie ein hauchdünnes, zartes Porzellangefäß, dessen vollkommene Oberfläche bereits einen Sprung hatte. Wenn er das Falsche sagte, würde er das Gefäß zerstören.
„Sag mir die Wahrheit, Alexander.“ Als er noch immer schwieg, lachte sie. Es war kein fröhlicher Laut. „Du bist wie mein Onkel. Auch er erzählt nur Dinge, die ich seiner Meinung nach wissen darf .“
Mit einem Ruck hob er den Kopf. „Ich bin in nichts deinem Onkel ähnlich.“
„Sieht aus, als hätte ich einen wunden Punkt getroffen.“ Der Sarkasmus verriet mehr über ihren Gemütszustand, als sie dachte. Vielleicht war sie stärker, als er zunächst angenommen hatte. Außerdem hatte sie ein Recht, die Wahrheit zu erfahren, zumindest was die Frage ihrer Herkunft anbelangte.
„Du bist ein Halbdämon. Das Kind einer Dämonin und eines Menschen.“
„Eine Halbdämonin?“ Sie lachte wieder. Dieses Mal aber bewegte sich das Lachen auf dem schmalen Grat zwischen Hysterie und Wahnsinn. „Es gibt keine Dämonen. Was bedeutet, dass es mich nicht gibt.“
„Sieh mich an, Sariel. Ich bin ein Dämon, ein Ifrit.“
Sie schüttelte den Kopf. „Die Nummer also. Als Nächstes soll ich glauben, mein Onkel sei ein Vampir … und ach, ja, Werwölfe gibt es auch. Nicht wahr?“
„Du weißt, dass ich die Wahrheit sage. Warum also versuchst du, das Ganze ins Lächerliche zu ziehen?“
Dieses Mal war sie diejenige, die schwieg. Als sie sprach, war ihr Blick zum ersten Mal seit diesem seltsamen Zusammentreffen wieder klar. „Meine Mutter konnte das auch. Sich in Rauch auflösen. So wie du. Ich hatte es vergessen. Ich war noch ein Kind, als sie es das letzte Mal tat. Als ich anfing, darüber zu reden, hörte sie damit auf und behauptete ich hätte mich geirrt, wenn ich sie darauf ansprach. Warum hat sie mir nie gesagt, was ich bin?“
„Ich weiß es nicht. Ich wünschte, ich könnte dir diese Frage beantworten, aber ich kann nicht.“
„Kanntest du sie?“
„Nein. Aber das ist nicht ungewöhnlich. Dämonen leben in der Welt der Menschen meist allein, an entlegenen Orten.“ Mit einer Geste wies er auf die Fensterfront vor ihnen.
„Ifrit.“ Sie sprach das Wort, als wolle sie seinen Geschmack testen.
„Ich kann dir von uns, von unserer Art erzählen, wenn du möchtest“, bot er an.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich muss … ich muss darüber nachdenken.“
Die Tajine war fast fertig, als sie die Küche betrat. Seit ihrem Gespräch waren mehrere Stunden vergangen. In dieser Zeit war kein Laut aus ihrem Zimmer gedrungen. Er hatte sich Sorgen gemacht. Sariel hatte viel durchmachen müssen in den letzten Tagen. Er wünschte, er hätte ihr die Erkenntnis, dass sie eine Halbdämonin war, ersparen können. Aber nach der Verwüstung, die sie in seinem Wohnzimmer angerichtet hatte, war das unmöglich. Gegen seinen Willen musste er lächeln. Der Raum sah aus, als ob ein Tornado hindurchgefegt war. Sariel Halder hatte offensichtlich das erregbare Temperament der Ifrit geerbt. Er fragte sich, welche Charaktereigenschaften ihre Mutter ihr noch mitgegeben hatte.
„Das riecht gut.“ Sariel trat an seine Seite und betrachtete die Tajine, die auf einer Tonschale stand, in der die Holzkohle bereits zu einer weißlichen Glut heruntergebrannt war. „Was ist das?“
„Das ist eine Tajine, ein marokkanisches Tongefäß. In Marokko wird es fast täglich benutzt, um Speisen zuzubereiten. Ich mag diese Art des Essens, denn es ist sehr würzig, ohne allzu scharf zu sein.“
„Klingt gut.“
Mit einer einladenden Handbewegung wies er zum Tisch. „Setze dich. Das Essen ist fast fertig.“
„Danke! Ich hatte nicht erwartet, bekocht zu werden.“
„Dachtest du, ich würde dich verhungern lassen?“
„Nein. Ich war mir nur nicht sicher, ob Dämonen überhaupt essen.“ Sie sah ihn herausfordernd an.
„Wir essen, aber anders als Menschen können wir sehr lange ohne Nahrung auskommen. Wir sind nahezu unsterblich.“
„Unsterblich. Dafür siehst du ziemlich jung aus.“ Sariel musterte ihn. „Ich würde dich auf Mitte zwanzig schätzen.“
„Ich bin hundert Jahre alt. Es gibt Ifrit, die über tausend Jahre zählen, trotzdem sehen sie nach euren Maßstäben nicht alt aus. Für einen Ifrit bin ich jung.“ Was auch der Grund dafür war, dass Halder mich überlisten konnte .
„Und Halbdämonen? Was ist mit mir, bin ich auch unsterblich?“
„Möglicherweise. Es gibt Halbdämonen, die sehr alt werden und erst mit zweihundert oder dreihundert Jahren sterben. Manche sind ebenso wie wir unsterblich. Das hängt davon ab, welcher Erbteil in dir überwiegt. Die meisten Halbdämonen sind älter, als du es bist, bevor der Dämonenanteil in ihnen zutage tritt. Bei dir sind die Fähigkeiten früh ausgebrochen.“ Er runzelte die Stirn. „Zu früh.“
„Meine Mutter ist tot. Wie kann das sein, wenn sie doch unsterblich war?“
„Man kann einen Dämon töten. Es ist nicht einfach, aber es geht.“
„Meine Mutter starb bei einem Autounfall.“
„Das … kann sein.“
Er war ein miserabler Lügner. Innerlich verwünschte er sich dafür, aber er würde ihr nicht die Wahrheit sagen. Sie durfte nicht erfahren, dass Halder ihre Eltern ermordet hatte. Ebenso wenig wie die Tatsache, wer dazu bestimmt war, ihren letzten lebenden Verwandten zu töten. Zum Glück bemerkte sie seinen inneren Zwiespalt nicht, denn sie hing ihren eigenen Gedanken nach.
Das war gut. Sehr gut sogar, denn sie war noch nicht bereit, mit einer weiteren Wahrheit konfrontiert zu werden. Nicht, nachdem ihr Leben gerade auf den Kopf gestellt worden war.
„Was ist es, was mein Onkel von mir haben will?“, fragte sie und holte ihn in die Realität zurück. Das Gefühl der Erleichterung löste sich in Rauch auf.
„Das habe ich noch nicht herausgefunden“, versuchte er, der Frage auszuweichen. Sariel musterte ihn.
„Du bist ein schlechter Lügner“, stellte sie fest. „Mein Onkel will etwas von mir. Was angeblich der Grund ist, weshalb du mich nicht zu ihm zurückbringst. Wenn du in diesem Punkt die Wahrheit sagst …“ Sie brach ab und überlegte. „Wenn es also wahr ist, dann bin ich offensichtlich nicht bereit, ihm das zu geben, was er haben möchte. Was seltsam ist, denn ich besitze nichts, was für ihn von Wert ist. Außer den Aktien. Aber die verwaltet ohnehin er für mich.“ Sie starrte auf den Fußboden und runzelte die Stirn. „Vielleicht sollte ich das ändern“, murmelte sie.
Alexander schwieg. Es war besser, wenn Sariel glaubte ihr Onkel sei an ihren Aktien interessiert.
Es war frustrierend. Und vor allem machte es sie wütend. Sie hatte alles versucht, um Alexander dazu zu bewegen sie nach dem Essen nach Hause zu lassen. Aber er blieb unerbittlich. Am liebsten hätte sie ihm die Augen ausgekratzt.
Verdammt!
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