»Hätte sie mir auch nur ein Wort geglaubt?«
»Natürlich!« Daran gab es für mich keinen Zweifel, doch Rin sah das offenbar anders.
Eine Weile liefen wir schweigend nebeneinanderher. Ich blickte mich immer wieder nach den Krähen um, und jedes Mal waren sie direkt hinter uns, saßen in einer Baumkrone oder auf dem Dach eines Hauses.
»Ich weiß, was die Leute über mich denken. Sie halten mich für sonderbar. Und das bin ich vielleicht auch. Ich möchte keinen Ärger mit ihnen.«
Ich erinnerte mich an Iras Worte. Er galt als Sonderling, als menschenscheu. Ich fragte mich, warum er dann ausgerechnet meine Nähe duldete. »Meine Tante hat nichts gegen dich, das kannst du mir glauben«, versicherte ich ihm.
In diesem Moment setzte eine Krähe zum Sturzflug auf uns an. Ich erschrak dermaßen, dass ich sofort die Hände vors Gesicht schlug, um den heftigen Flügelschlag abzuwehren.
»Alles ist gut«, beruhigte mich Rin.
Vorsichtig nahm ich die Hände wieder herunter. Rin holte ein Stück Brot aus seiner Hosentasche, brach ein Stückchen ab und reichte es der Krähe, die auf seiner Schulter Platz genommen hatte.
»Das ist unglaublich.« Ich hatte noch nie eine zahme Krähe gesehen. »Wie machst du das nur, sie scheint dir völlig zu vertrauen.«
Er gab ihr einen weiteren Brocken, den sie mit der Klaue nahm und dann zum Schnabel führte, um daran zu knabbern. Eine zweite Krähe setzte sich, davon ermutigt, auf Rins andere Schulter. Auch sie bekam einen Leckerbissen.
»Als ich ein kleiner Junge war und meinem Bruder sein Totem, der Bär, erschien, wollte ich auch ein Totem besitzen. Eines, das größer und mächtiger war als der Bär. Aber Vater sagte, dass nicht ich es bestimmen könne, sondern dass es mich erwählen und sich mir zu erkennen geben würde, wenn die Zeit dafür reif sei.
Die Männer und Frauen meines Stammes haben eine alte Tradition. Sie gehen nach Hokatriri, dem Land der Steine, das ihr Badlands nennt. Dort fasten sie und bitten die Zorwaya um ein Zeichen. Wenn sie gnädig sind, senden sie ihnen ihr Totem in einem Traum.
Viele Krieger hoffen auf ein Totem wie den Bären, das Pferd oder den Adler. Wir glauben, dass ihre Fähigkeiten auf uns übergehen. Doch jeder bekommt nur das Totem, das seinem Selbst entspricht.«
Rins Stimme war tief und rau geworden, während er das erzählte. Ich bekam eine Gänsehaut, weil sie plötzlich fern, beinahe geisterhaft klang.
»Es sind die Krähen, nicht wahr? Sie sind dein Totem.«
Er nickte. »Als ich alt genug war, ging ich nach Hokatriri, wie es schon meine Vorfahren und mein Bruder getan hatten, setzte mich auf einen Felsvorsprung und wartete, bis mir das Zeichen geschickt würde. Die Sonne brannte heiß. Ich hielt es in meiner Kleidung nicht länger aus, streifte sie ab und streckte mich auf dem Stein aus. Normalerweise dauert es drei Tage und Nächte, manchmal sogar länger, ehe die Zorwaya die jungen Krieger erhörten. Doch zu mir waren sie gnädig. Eine Krähe erschien mir und setzte sich auf meine Brust. Sie sah so echt aus, dass ich glaubte, ihr Gefieder berühren zu können. Ich blieb liegen und spürte, wie ihre Kraft durch mich floss, wie sie und ich miteinander verschmolzen. Es war ein erhabenes Gefühl. Seit diesem Tag folgen sie mir.«
»Welche Fähigkeiten hat die Krähe?«
»Die Krähe ist das Totem des Cha-Bekum. Ihr würdet ihn Schamane nennen. Seine Fähigkeit ist die Spiritualität.« Er musterte mich sehr eindringlich und wartete auf eine Reaktion. Aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Für dich klingt das wie ein Märchen. Hab ich recht, Stadtmädchen?«
»Nein, eigentlich nicht.« Vielleicht hätte es so klingen müssen, das wäre zumindest vernünftig gewesen, aber ich war fasziniert von Rins Geschichte und seinem Wissen über die Geister. Ich wollte mehr über ihn und seine Welt erfahren.
»Du bist also ein Schamane?«
»Noch nicht. Ein langer Weg liegt vor mir. Manche sagen, es dauert ein Leben lang, um die Weisheit von zehn Kreisläufen zu erlangen. Ein Schamane aber braucht die Weisheit von hundert Kreisläufen.«
»Das klingt, als sei es unerfüllbar.«
»Es ist eine Lebensaufgabe. Aber nun weißt du, was es mit den Krähen auf sich hat. Sie tun mir nichts, und auch dir werden sie kein Haar krümmen.« Er warf das letzte Stückchen Brot in die Luft. Sofort breitete eine Krähe ihre Flügel aus und schoss hinterher, um es aufzufangen, bevor es zu Boden fiel.
»Welchem Stamm gehörst du an?«
»Wir nennen uns Ti’tibrin E’neya. In eurer Sprache heißt es Kinder der E’neya, der Gründerin und Urmutter unseres Stammes, welche die Männer und Frauen zu einer Sippe einte und uns den Weg der Natur lehrte.«
»Von diesem Stamm habe ich noch nie gehört.«
»Es gibt über fünfhundert anerkannte Stämme in den USA. Wie sollte ein Großstadtmädchen wie du sie alle kennen?«
»Haha. Ich wünschte, du würdest aufhören, mich so zu nennen.« Es kränkte mich ein bisschen. Er musste glauben, dass ich von nichts eine Ahnung hatte, was sich außerhalb von Berlin befand.
»Ich meine es nicht böse. Das weißt du hoffentlich?« Er legte sacht den Arm um meine Schultern und zog mich an sich. So dicht, dass mir der Duft von Wald und Wiese in die Nase stieg. Ich inhalierte dieses wilde Aroma, das meine Sinne vernebelte.
»Ja, ich weiß.«
Es war aufregend, ihm so nahe sein zu dürfen. Ich fing an zu schwitzen. Ausgerechnet jetzt. Rasch wischte ich meine klebrigen Hände an meiner Hose ab. In dem Moment ließ er mich los und ging vorneweg. Ich war enttäuscht, hatte ich doch gerade angefangen, seine Nähe zu genießen. Seine Bewegungen waren sehr anmutig und leichtfüßig, doch zugleich strotzten sie vor Stärke. Er besaß eine natürliche Eleganz, die ich nie zuvor bei einem anderen Menschen wahrgenommen hatte. Die schulterlangen Haare wippten im Rhythmus seiner Schritte, gleich der wilden Mähne eines Mustangs, der durch die Prärie galoppierte.
»Danke fürs Heimbringen«, sagte ich, als wir vor dem Desert Spring stehen blieben. »Hoffentlich hast du jetzt keinen allzu langen Heimweg vor dir?« Ich hoffte herauszufinden, wo er lebte. Dann könnte ich zufällige Begegnungen inszenieren.
Er nickte mit dem Kopf nach Norden. »Ein Stückchen von hier ist es schon. Aber das stört mich nicht. Ich lebe hinter der Stadtgrenze.«
»Auf einer Farm?« Ich hatte diese fixe Idee, Rin könne als Farmerjunge angestellt sein. Sein kariertes Hemd und die Jeanslatzhose erweckten diesen Eindruck. Er schüttelte amüsiert den Kopf.
»Aber was ist denn dort draußen? Noch eine Stadt?«
Von der hätte ich sicherlich inzwischen gehört. Andererseits gab es im Pennington County viele kleine Orte, die nur mit etwas Glück auf einer Landkarte zu finden waren.
»Ich lebe dort, wo die Wälder beginnen.« »Das muss sehr einsam sein.« »Ich mag es, wie es ist.«
Ich ließ das Gartentor hin- und herschwingen, doch als Rin mich plötzlich auf unsagbar sanfte Weise ansah, hielt ich abrupt inne. Seine Augen waren wie zwei große schwarze Löcher, in die man sehr schnell hineingesogen wurde, wenn man sich nicht in Acht nahm. Ich jedenfalls konnte nun, da ich zu lange hineingeschaut hatte, nicht mehr wegsehen.
Sein Blick wanderte tiefer und blieb an meinen Lippen hängen. Ein aufregendes Kribbeln breitete sich in meinem ganzen Körper aus.
»Das war ein schöner Abend«, sagte er.
»Ja, das war er.« Ich wünschte nur, er würde jetzt nicht zu Ende sein. »Kommst du auch zur Cluberöffnung?«, fragte ich in der Hoffnung, ihn dort wiederzusehen. »Cluberöffnung?«
»Der Cobra Club in Rapid City. Das soll schon jetzt ein angesagter Laden sein«, erklärte ich und berief mich dabei auf Iras Aussagen. »Der mit der großen Kobra über dem Eingang.«
Rin wiegte nachdenklich den Kopf. »Ich glaube nicht, dass das etwas für mich ist.«
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