1 ...6 7 8 10 11 12 ...24 Kaum war ich ins Zimmer getreten, als Choice schon von Thea zu erzählen begann. Ich nahm Platz und zog die Schnürstiefel aus. Sie scheuerten an den Fersen, und ich verachtete mich selbst, weil ich nur wegen des Aussehens neue Stiefel nach Stockholm angezogen hatte. Doch sie sind gelb und glänzend poliert, und ich mag sie außerordentlich gern.
Choice begann mit einer kleinen Vorstellung, bei der sie die Rolle Theas in ihrer Funktion als Lehrerin mimte: »Ich sehe sie direkt vor mir, dort im Wallinschen Mädchengymnasium ... wie sie das Lehrbuch zuschlägt und über die Fehler der Elevinnen bei Grundbegriffen der lateinischen Grammatik wettert, wenn sie nicht imstande sind, Cicero zu beugen oder ›ein übermütiger Seemann‹. Dann nennt Thea sie eine Schande für das weibliche Geschlecht, und hinterher plagt sie das schlechte Gewissen.«
Jetzt kratzte Choice den Rest der Dickmilch zusammen und warf die Apfelschalen in den Papierkorb. Sie schob den Stuhl zurück und zog die oberste Schreibtischschublade ein Stück auf. Dann lehnte sie sich so weit nach hinten, daß der Stuhl gegen die Wand kippte, stützte die Füße auf die Schublade und erklärte, ich würde entzückt von Thea sein.
»Sie ist streng und ein bißchen barsch, aber ...«
»... hat ein Herz aus Gold?«
»Du brauchst nicht so ironisch zu sein! Jedenfalls interessiert sie sich für gute Literatur.«
Jetzt hämmerte es gegen die Tür. Choice schwang rasch die Füße auf den Boden und schob die Schublade zu. Ich schaute auf meine Stiefel hinunter, die noch immer fein säuberlich auf dem Fußboden standen.
»Herein!«
Die Tür wurde aufgestoßen, und ein robustes Weibsbild um die Fünfunddreißig trat ins Zimmer. Sie trug einen langen, engen Rock, Knopfstiefel, wie wir beide, Herrenweste und Sportjacke über der Bluse. Ihr Haar war dunkel, von jener Nuance, die blonde Kinder als Erwachsene haben, und tatsächlich war es in Höhe der Ohrläppchen abgeschnitten. Die Gesichtszüge konnte man kaum fein nennen, eher stimmte das Gegenteil, doch ihr Blick war so klar, daß man sie für schön hielt. Das also war Thea. Die ganze Gestalt strahlte Begabung aus.
»Entschuldigt die Verspätung. Habt ihr gewartet?«
»Überhaupt nicht!«
Choice ging ihr entgegen und schüttelte ihr die Hand, zog einen Stuhl hervor und knuffte das Rückenkissen zurecht. Ich erhob mich und gab ihr ebenfalls die Hand. Ohne Stiefel fühlte ich mich höchst lächerlich.
»Dozentin Gran, Lizentiat der Philologie Jansson. Könnt ihr zwei euch nicht gleich duzen, wenn ihr jetzt ohnehin zusammen arbeitet?«
»Wenn wir es tun, ja«, sagte Thea und schaute mich lange an. Es war, als käme man in die Schule und habe seine Aufgaben nicht ordentlich gemacht. Streng? Ja, das schien zu stimmen.
»Was sind Sie eigentlich für eine Person, Dozentin Gran?«
Ein Gefühl bekam die Oberhand: die strumpfbekleideten Füße erschienen gigantisch. Vorsichtig schielte ich auf sie hinunter. Sie sahen wie immer aus, recht wohlgeformte Baumwollfüßlinge mit nur einer einzigen, fast unmerklichen Stopfstelle am linken kleinen Zeh. Zweifelsohne war die Frage nur rhetorisch gemeint, denn sie fuhr mit dem Sprechen fort, ohne auf Antwort zu warten.
»Weder Choice noch ich haben schließlich Ihren gediegenen wissenschaftlichen Hintergrund, also frage ich mich, ob wir die Richtigen für diese Aufgabe sind. Haben Sie mit Ihren Kollegen gesprochen?«
Ich konnte der Versuchung nicht länger widerstehen, setzte mich und zog die Stiefel an. Die Ferse schmerzte heftig, als ich den Fuß hineinpreßte. Wenn ich nur nicht so verflixt kokett wäre! Nachdem ich eine Zeitlang mit den Verschlüssen gekämpft hatte, reichte mir Choice einen Stiefelknöpfer, der wohl in ihrer Schublade gelegen hatte. Nach dem halben Stiefel sagte ich seufzend: »Meine Kollegen sind Männer . Auch wenn unter ihnen Renaissanceforscher und Texteditoren sind, interessiert sie die ›Weibsperson‹, wie sie die Brenner nennen, herzlich wenig.«
Thea zog einen Stuhl heran und setzte sich neben mich.
»Und Schlippenbach? Er soll doch ein kluger Mann sein.«
Der rechte Stiefel war zugeknöpft, und ich widmete mich dem linken. Dieser Fuß schmerzte am schlimmsten. Welch Glück, daß der Bahnhof in der Nähe lag.
»Er hat anderes um die Ohren«, erklärte ich. Professor, Rektor und Mitglied sämtlicher Gesellschaften und Akademien, die man sich nur vorstellen kann, selbst wenn er noch nicht in die Schwedische Akademie gewählt wurde. Ich schloß die letzten Knöpfe und erklärte das Herausgabeprojekt. Thea brummelte, sie spreche in der Tat fließend Latein, was man in heutiger Zeit ja nicht von allen Studierten behaupten könne. Ich empfand es sofort als Anspielung auf mich, versuchte jedoch, einem Streit aus dem Weg zu gehen, und verbreitete mich statt dessen über Handschriften und Reisen. Alle müßten wir auf lange Archivreisen gefaßt sein, denn bei den vielen internationalen Kontakten der Brenner seien wir gezwungen – vielleicht war es ja auch Glück –, ausländische Archive aufzusuchen.
Die Gedanken eilten aus dem Redaktionszimmer davon und in die Welt hinaus. Welche Länder würden wir besuchen, welche Archive durchforsten? In den Ohren rauschte es, es mußte der Wind der Freiheit sein. Nur ich allein – nein doch, nur wir drei – und nichts band uns hier. Keine Kinder, kein Mann, keine Eltern. Mutter und Vater waren nicht sonderlich alt, Papa war fortwährend mit seinen Pelzen beschäftigt, und Mama noch immer imstande, Pelze wie Haushaltsbürden auf kleidsame Weise zu tragen.
»Und wer bezahlt die Reisen?« fragte Thea.
Ich legte den Stiefelknöpfer mit einem Scheppern auf den Tisch. Eine derart materielle Frage hatte Choice natürlich nicht interessiert.
»Das geht schon in Ordnung. Ich habe Schlippenbachs Wort.«
Thea fuhr mit den Fingern durch die Stirnlocke und schaute mich an. Ich wich ihrem Blick aus.
»Nun ja«, sagte sie, »solange wir in den Ferien reisen, dann ... Und Choice ... was sagt der Chefredakteur?«
»Oh, wenn ich von unterwegs nur ein paar Reportagen schicke, wird er schon mitspielen. Er ist ein netter Mann.«
»Dann sind wir uns einig?« fragte ich.
»Eine Sache noch!« unterbrach Thea. »Ich weiß nichts über die Brenner-Zeit. Eigentlich hatte ich absagen wollen ...«
»Nun, man lernt wohl bei der Arbeit.«
»Aber ... Dozentin Gran, jetzt will ich Ihnen etwas erzählen: Ich wollte die Schiffbruchmetaphorik des Horatius in der Klasse durchgehen – all das über die Liebe und die Gefahr des Meeres ...«
»Mir bekannt!« erwiderte ich bissig.
»Und als ich in der Schulbibliothek etwas ganz anderes nachschlug, fand ich dieses hier ... Sie kennen es selbstverständlich bestens. Es fiel mir förmlich in die Hände und öffnete sich von selbst genau an dieser Stelle ...«
Sie nahm einen dicken uralten Wälzer aus der Kollegmappe und reichte ihn mir. Ich griff vorsichtig danach. Sophia Elisabeth Brenners Poetische Verse, verfaßt in mancherlei Sprachen, zu unterschiedlichen Zeiten und bei mannigfaltigen Gelegenheiten stand auf der Titelseite. Auf der Innenseite des Einbands hatten sich die Besitzer verewigt. Das Buch hatte bereits ein langes Leben hinter sich, und es war gelesen worden, ein ums andere Mal, denn das Papier war an den Ecken abgegriffen und schmuddelig. Zuoberst stand eine frühe Eintragung, kaum leserlich. Dann folgte: A. L. Berg 1779, Constance Ekensparre 1842. Ein Namenszug war durchgestrichen, und jemand hatte versucht, ihn mit dem Messer zu tilgen. Hatte einer das Buch von seinem schlimmsten Feind geerbt? Vielleicht war es der Name eines geliebten Freundes, dort hingeschrieben in erster Verliebtheit ... und später, als die Liebe erkaltete, wollte man ihn löschen. Auch Kritzeleien eines Kindes fanden sich dort. »Poetische Verse« hatte es geschrieben, mit gleich vielen Schnörkeln wie auf der Titelseite. Darunter ein Versuch, vielleicht vom selben Kind, das Titelkupfer zu kopieren. Die Frisur der Brenner in der Kinderzeichnung war noch höher und lockiger als auf dem Stich, und ihr energisches Gesicht wirkte nicht schöner, doch tatsächlich menschlicher. Als ich sie jetzt betrachtete, begann sie sich zu bewegen. Zuerst wand sie sich nur ein wenig, so als scheuere das Schnürmieder, dann beugte sie sich vor und sah mich an. Ihre Augen waren wirklich sehr hell, doch zeugten sie von Charakter. Jetzt lächelte sie – da war nicht das lauthalse Lachen aus dem Traum, nur ein leises ironisches Lächeln, vielleicht ein wenig geheimnisvoll. Hatte das Weib etwas zu verbergen?
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