1 ...7 8 9 11 12 13 ...24 Thea ließ das Buch los, und die Brenner erstarrte zu Tintenstrichen, gezeichnet von einem Kind, das die Feder vor langer Zeit ins Tintenfaß getaucht hatte. Ich legte den Zeigefinger an die Stelle, die Theas Finger soeben noch markiert hatte. »Grab-Schrifften« las ich zuoberst auf der linken Seite. Doch Thea wies nach rechts. Dort stand ein Sonett – kein kleines Futteral für Spleen und Dekadenz, wie neuzeitliche Dichter es hervorbrachten – nein, eine Grabschrift »Dem Söhnchen Marten brenner, der geboren ward den 29. Mai 1688 und verstorben selbigen Jahres den 25. Oktober«. Fünf Monate alt nur.
Soll ohne Ende Schmerz, soll Sorge mich durchgehen,
Soll klagen ewig ich, weil du verstarbst so früh?
Beweinen soll ich dich, da dich anlächeln sie,
Die Engel, denen gleich du JEsum schon darfst sehen?
Wie sollte mir daran ein Zweifel je entstehen:
Entziehn wird Wonne dir, die himmlische, sich nie.
Teilhaftig bist bereits der Gnade du. O wie
Nur könnte dein Geschick als Mißgeschick ich schmähen!
O selig überaus du, dessen Weg sich schloß,
Noch ehe er sich dir eröffnete. Dein Schwinden
Ist Glück. Denn unsre Fahrt in wüsten Sturms Getos
Verwirrt sich, noch bevor der Hafen sich kann künden.
Aus deiner Wiege fandst du leicht in JEsu Schoß,
Dahin so viele schwer, die meisten niemals finden.
Der Sturm wirft unsere Schiffe auf dunklem Meer umher, und unsere Rettung ist allzeit ungewiß. Doch mit seiner Wiege als Schiff schaukelte der kleine Marten in einer Lustfahrt auf sommerlichen Wogen, unterwegs in die Seeligkeit.
»Es fiel mir schwer, von diesem Bild loszukommen ... dabei, man bedenke, verabscheue ich Kinder!«
»Und sind Lehrerin?«
»Im Mädchengymnasium.«
»Auf dem Friedhof in Karlstad liegen drei tote Geschwister von Thea«, erklärte Choice, »und obendrein hat sie zwei lebende Geschwisterkinder.«
»Nun ja, sie waren nicht einmal ein Jahr, als sie starben, und ich erinnere mich nicht an sie.«
Ich selbst bin das einzige Kind daheim, geliebt und ersehnt. In unseren Kreisen ist die Kindersterblichkeit heute gering, doch weiß ich schließlich, wie es Freunden ergangen ist: Die toten Kinder waren im Kreis der Geschwister stets zugegen, wie eine Art Schatten. Und bestimmte Tage im Jahr waren gezeichnet durch sie; zwar gab es weder Fest noch Trauerfeier zu ihren Ehren, doch Mutter und Vater wurden gleichsam stiller, und dann kam der Satz: ›Heute ist Fredrikas Geburtstag‹, und man ahnte, daß sie nachrechneten, wie alt das Kind geworden wäre. Ich konnte mir denken, daß man in Theas Familie die Sache nie sehr sentimental anging.
»Das Gedicht ist gut«, sagte ich. »Die Brenner konnte ihre Sache. Sie werden sehen, Frau Doktor Jansson, daß es bei ihr mehr zu holen gibt, als man glaubt. Sie ist unsere Arbeit wert.«
Thea sah mich fest und entschlossen an, ohne an ihrem Haar zu bosseln oder im geringsten verlegen zu wirken.
»Na dann, abgemacht! Ich schlage ein! Ich bin wohl die Älteste? Zweiundneunziger Jahrgang. Thea.«
»Elisabet, allerdings meist Lissie. Nulleinser.«
Nachdem wir das Jahr unserer Reifeprüfung ausgetauscht hatten und Thea berichtet hatte, daß sie eins der ersten Mädchen gewesen sei, die in Karlstad die Prüfung ablegten, erstaunte Choice uns beide mit dem Vorschlag, Brüderschaft zu trinken. Wir wehrten ab. Thea behauptete, es sei eine männliche Unsitte, nur um öfter Gelegenheit zum Trinken zu haben.
»Das Duzen war eigentlich das Ursprüngliche, ehe Feudalherrschaft und Gewohnheiten aus dem Ausland das ganze Titulierungssystem über den Haufen warfen.« Ich spürte erneut den Wunsch nach Süßem.
»Ich weiß! Wir gehen ins Café und mischen uns unter die Ladenfräuleins.«
Die wunden Füße hatte ich fast vergessen, und obgleich sie sich unterwegs bemerkbar machten, konnte die Blätterteigtorte sie beinahe heilen. Sie schmeckte beileibe nicht übel.
*
Anfrage, publiziert in allen größeren Tageszeitungen, in Ord och Bild sowie der Personhistorisk Tidskrift im Frühjahr 1910
Die Schwedische Literaturgesellschaft bereitet eine vollständige Edition der Briefe der Sophia Elisabeth Brenner (geb. Weber) vor. Die Herausgeber appellieren hiermit an alljeden, ihnen mögliche Auskünfte hinsichtlich der Brenner kundzutun: Briefe von und an die Brenner im Original oder in Abschrift, Vermerke über Schriften von und über die Brenner , Auskünfte über Personen, die mit der Brenner verkehrten, denen sie Gesänge gewidmet oder mit denen sie auf andere Weise Berührung hatte. Informationen sind zu richten an Doz. Gran, Upsala Universität, oder Redakteur Nordin, Stockholms-Posten.
31.5.1910
Heute war Promotion in Uppsala. Die Carolina blieb geschlossen, und auf der akademischen Seite des Flusses bereitete man sich auf das große Ereignis des Jahres vor. Am Schloß und am Universitätsgebäude standen Soldaten der Upplands-Regimente, die Sonne glitzerte in den Epauletten der Leutnants, und die Kanonen wurden gerichtet zum Salutschießen. Vor der Universität versammelten sich bereits die Academici – frackgekleidete Herren jedweder Couleur: schlanke Studentenmarschälle mit blau-gelben Schärpen und frischgewaschenen Mützen; die Dozenten Bondeson, Huund und Wallin mit bestickten Kragen, die Hüte in der Hand; ergraute Professoren – und dann der Rektor, Professor Schlippenbach mit wallendem Bart und pfiffigen Äuglein hinter der Stahlbrille. Dort standen auch die Promovenden, noch ohne Hüte, ohne Lorbeerkränze, und pufften sich wie Kinder auf dem Schulhof.
Mein schwarzes Festkleid aber war nirgendwo zu entdecken. Es lag ordentlich verpackt in einem Koffer, und der Koffer fuhr just in diesem Augenblick mit dem Güterzug in Kimstad ein, um kurz darauf von stämmigen Ostgöten in einen Gepäckwagen verladen zu werden, der nach Finspång sollte. Ich persönlich befand mich ein wenig weiter nordwärts, ungefähr in Höhe von Järna, und ruinierte meine Frisur, weil ich mit dem Kopf aus dem offenen Fenster hing und die Sonne genoß. Ruß wehte mir ins Gesicht und wurde zudem noch ungleich darauf verteilt, landete nicht als kleidsame Mouches. Heute begann der Sommer. Walpurgis war vorüber, ebenso der Frühlingsball, und mit der Promotion endete das Semester.
Der Monat Mai in Uppsala verwundert mich stets aufs neue. Irgendwann um Walpurgis beginnt die Stadt zu blühen, die Bäume treiben Knospen, und das erste zarte Grün zeigt sich, und überall wimmelt es von Menschen, von Studenten und Studentinnen nebst vielerlei jungen Damen, alle in frischen, sanften Farben. Zugleich ist die Luft von einer Spannung erfüllt, die sie vibrieren läßt. Vielleicht rührt es daher, daß so viele junge Leute an ein und demselben Ort versammelt sind, an dem Vergnügen herrscht, aber auch Prüfungsangst. Vielleicht sind die Lüste im Frühling so stark, daß sie die Luft der Stadt zum Schwingen bringen ... ja, auf die gleiche Weise, wie die Liebe zu Gott einst die Sphären zum Kreisen brachte und ihre unfaßbare Harmonie schuf.
Man darf nicht erwarten, daß ich von diesen jugendlichen Vibrationen unberührt bleibe. Vielleicht hätte meine Stellung mich altern und vorzeitig erstarren lassen sollen. Doch gibt es schließlich Gleichaltrige, die noch immer von der Frühlingsballerotik und allen Vergnügungen und Qualen der Jugend mitgerissen werden. In der Frühlingsballnacht stand ich mutterseelenallein in meinem Zimmer und hörte in der Nähe die Serenaden für irgendein Mädchen ertönen ... da überfiel mich die Erinnerung an die kindliche Schwärmerei für Leutnant Greger Färla und die weniger unschuldige Verbindung mit dem lieben Helge. Uppsalas helle Mainacht wühlte meine Sinne derart auf, daß ich tief im Herzen eine Verliebtheit spürte, so unbestimmt, daß nicht sicher war, ob sie einem Gegenstand galt oder ob mich nur die Jahreszeit verzauberte. Gern hätte ich selbst verborgen im Frühlingsdunkel gestanden und eine Serenade für einen schlummernden Adonis gesungen, und vielleicht hätte sich hinter der Gardine ein Licht gezeigt. Doch dort oben im zweiten Stock war ich allein mit meiner Frühlingssehnsucht. Da wünschte ich mich weit, weit weg, an einen Ort, an dem Uppsala mich nicht erreichen konnte.
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