Carina Burman - Die zehnte Göttin des Gesangs

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Uppsala 1909. Die junge Dozentin der Literaturwissenschaft Elisabet Gran ist 25 Jahre alt und die einzige Frau an der Fakultät. Elisabet geht mit ihrem Professor eine Wette ein. Gelingt es ihr, Lebenszeugnisse der Poetin Sophia Elisabeth Brenner (1659-1730), genannt die schwedische Sappho, aufzuspüren, liegt ihr die wissenschaftliche Welt zu Füßen. Bleibt Elisabet der Erfolg versagt, muss sie die Universitätskarriere an den Nagel hängen. Doch die Suche gestaltet sich für Elisabet weniger einfach als gedacht, zumal sich die junge Frau in ein Abenteuer begibt, dass schon bald ihr eigenes Leben gehörig durcheinander wirbeln wird. Auf den Spuren der Barock-Poetin Brenner reisen Elisabet und ihre Freundinnen Thea und Choice durch Europa, entdecken das Nachtleben von Berlin, unzählige Archivseelen und die geheime Bibliothek des Vatikans und macht Bekanntschaft mit eine rgeheimen Frauenloge. Die Spurensuche endet letztlich in Sankt Petersburg – aber kommen auch wirklich ausreichend Lebenszeugnisse zusammen, um die Wette zu gewinnen?Im Stil einer Detektivgeschichte beschreibt Carina Burman die Reise der drei Frauen als ein spannendes Abenteuer, das einen von der ersten Seite an mitreißt.-

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Carina Burman

Die zehnte Göttin des Gesangs

Roman

Aus dem Schwedischen

von Gisela Kosubek

Saga

Prolog im Himmel

Von der Heiligen Dreifaltigkeit schlug es acht, und der Dom folgte mit schweren Glockenschlägen nach. Es war Abend im Viertel der Seligen, die Stadt lag ruhig und still. Die Forscher hatten die Seminarräume im Rigorosum verlassen und die Studenten den Punsch in den Lokalen noch nicht bestellt. Die Fensterscheiben des Gustavianums klirrten unter den Glockenschlägen. In weißen, weichen Schnee gebettet, wölbte sich die Erde, Schnee, der die Stadt, die Kirche und die Universität umhüllte wie Flickenteppiche eine Umzugsfuhre. Die Gärten der Wissenschaften schliefen still im Novemberdunkel, voller Gewißheit, daß der Frühling sie eines Tages wieder zum Leben erweckt. In den Gewächshäusern aber herrschte noch tropischer Sommer, dort war es warm und die Luft war feucht. Wie schwarze Schatten zeichneten sich die Zwillingstürme vor dem sternklaren Himmel ab.

Gleich neben dem Dom lag das »Gästis«, wo an diesem Novemberabend die Schwedische Literaturgesellschaft ihren Jahreskongreß abhielt. Heute gingen die Studenten der Literatur nicht zum Verband Verdandi oder zur Landeskorporation, und die Erörterung der politischen Folgen des Großen Streiks mußte warten, bis der Kongreß vorüber war. Dunkle Rücken strafften sich auf den Stühlen, Blicke richteten sich auf den Referenten, obgleich das eine oder andere Ohr dem Thema »Fruchtbarkeitsgöttinnen im Gilgamesch-Epos« jetzt, gegen Ende des Vortrags, wohl verschlossen blieb. Georg Schlippenbach, Professor und Rektor der Universität, faltete die Hände über dem Bauch und lächelte dem Redner am Pult wohlwollend zu. Schlippenbach, der große Mann der Literaturforschung, die Literaturgesellschaft und die Blüte des Fachs waren sein Werk, groß und wunderbar. Haar und Bart lagen in Locken um sein Gesicht, die Pomade glänzte im Gaslicht und umgab ihn mit fast himmlischem Leuchten.

»Je weiter wir zurückschauen, desto zahlreicher und einflußreicher waren die Göttinnen. Ohne Zweifel spiegelt die Veränderung im sumerischen Pantheon eine soziale Entwicklung wider, die eine Abschwächung des weiblichen Elements in jener Gesellschaft zur Folge hatte. Gewiß gab es bei den Sumerern das Matriarchat – wie bei anderen asiatischen Völkern auch –, und dazu gehörte eine freiere Stellung der Frau. Die Erniedrigung der Ischtar im Gilgamesch-Epos weist auf den Übergang zur modernen patriarchalischen Gesellschaft hin.«

Der Referent streckte den Rücken und legte sein Manuskript zusammen. Der Vortrag war beendet. Professor Schlippenbach erhob sich von seinem Stuhl und begab sich zum Podium. »Es ist mir eine Ehre, im Namen der Schwedischen Literaturgesellschaft Dank aussprechen zu dürfen ...«

Jemand im Publikum begann zu tuscheln. Ein anderer rutschte auf dem Stuhl hin und her, man spürte ... War es Unruhe? Nein, Erwartung lag in der Luft.

»Und wie gewohnt beendet die Gesellschaft ihren Jahreskongreß mit einem Diner im Speisesaal des Stadthotels.«

Man erhob sich von den Stühlen, streckte die Beine und ließ dem Geplauder freien Lauf. Der Vortrag wurde gründlich ausgewertet. Stimmen erklangen, die ihn für bahnbrechend hielten, andere meinten, er hätte nur längst Bekanntes aufgewärmt. Einer erklärte sogar, Fruchtbarkeitsgöttinnen seien kein passendes Thema für die Literaturgesellschaft. Schließlich formierte sich die Prozession: Allen voran schritt Schlippenbach mit der Würde des Rektors, dann folgten die Dozenten und sein Hof, darauf die Professoren anderer Fachrichtungen. Adolf Noréen von den Nordischen Sprachen und der Historiker Edén, Mitglied der zweiten Kammer, hier mit Sam Wide von der klassischen Altertumswissenschaft. Bygdén von der Universitätsbibliothek und natürlich Dozent Leander von der Assyriologie schlossen sich an, beide tief versunken im hochgeistigen Gespräch mit dem Referenten. Zuletzt kamen all die anderen: Dozenten benachbarter Fachrichtungen, Bibliotheksgehilfen, Lizentiaten, Magister und Kandidaten. Es herrschte ein Gewimmel an Physiognomien – nur in einem ähnelten sie einander: Ihre Gesichter erstrahlten in dem Licht, das Menschen umgibt, wenn ein reichgedecktes Büfett ihrer wartet.

Und das Büfett des Hotels türmte sich auf dem Tisch gleich einer Stadt. Da gab es die Behausungen der Emsigen, die Eigenheimsiedlungen: Glasmeister- und Delikateßhering, Hering mit Butter und Ei, Heringssalat und Hering à la russe. Ein Grau in allen Nuancen, Fischerhütten an der Küste Bohusläns gleich, vollendet, mit einem Stich ins Dunkelrote hier und da. Obendrein eine Strömlingskasserolle, Strömling gebraten, Strömling in weißer Soße und eingelegt, Bücklingssalat und fritierte Anschovis. Auf einem Felsvorsprung darüber ein Lusthaus in Schwarz und Weiß: eine hochstielige Schale mit russischem Kaviar, kleingehackten Zwiebeln und saurer Sahne. Indes war die Menge nicht groß, und ein Volkspark, tiefer gelegen, breitete norrländischen Maränenrogen aus, versehen mit gleichem Zubehör.

Dem Volkspark gegenüber hatte die Bürgerschaft ihre Heimstatt. Gediegene Gebäude verschiedener Größe, doch alle von gleicher Dignität: Hackfischtimbale mit Hummer und verlorenem Ei, gebeizter Lachs und Lachs in Mayonnaise, Fisch in Aspik und Aspik mit Schalentieren, Eiern und Erbsen. Man mußte innehalten und diese Bauten betrachten: so wohlgeordnet, so hübsch, in Rosa und Grün, wie es honetten Bürgervillen ansteht. Dort grünt sogar ein kleiner Garten, Petersilie schmückt die Timbale und Dill das Aspik.

Umrunden wir die Stadt, begegnet uns ein sonnengelbweißes Gewimmel: Ei mit Croutons, Ei Chantilly, Ei mit scharfer Soße und vier Sorten Omelett.

Fabriken gibt es nicht, sie liegen gewiß in der Küchenregion. Doch die Oberschicht thront in Wohlleben hier: Pasteten aus Fisch und Fleisch, Kalbssülze – da freut sich der Professor – und Preßkopf. Doch o weh, dort hat sich ein Wolf im Schafpelz versteckt! Eine Karottentimbale! Gott sei Dank, da sind die kleinen Frikadellen, der farcierte Sellerie und Prinzwürstchen – die Wohnstätten tüchtiger Emporkömmlinge; die Domäne der Siedlungshäuser haben sie verdientermaßen hinter sich.

Neben kaltem Aufschnitt, Schinken, Truthahn, Pökelfleisch, stehen Oliven, schmelzend weich im Fleisch wie die Mädchen der Siebenundvierzig. Doch jetzt runzelt Gran gewiß die Stirn über den Vergleich. Man hat Moral in diesen Kreisen. Wir müssen eilen, um den Professor nicht zu erzürnen. Und nun geht es wahrhaftig rasch: Käse aus Frankreich und Västergötland, der eine weich wie eine Liebkosung, der andere streng wie das Eheleben, aber beide unvermeidlich, kaum zu übergehen. Dann bleiben nur noch die Desserts, meist Schlagsahne, scheint es, die Königin-Viktoria-Torte, irgendein Soufflé und – herrjemine! – Tütchen mit Engelsspeise, in Zucker gestellt. Ist das hier ein Kinderfest?

Gott, nein! Wir vergessen ja das Wichtigste. Denn diese Stadt hat eine Kathedrale. Sie thront mittendrin wie der Dom hier zu Uppsala. Schön und glänzend, so nahe, wie man auf Erden dem Himmelreich nur kommen kann: die Branntweinmarketenderei mit ihren sieben Hähnen: dem Klaren, Kümmel, Wodka, Genever, Grenadier, Pomeranz und Finnischem Wasser. Um sie herum schart sich die Literaturgesellschaft und bezeugt ihre Achtung. Vor der bauchigen Fassade erscheint Professor Schlippenbach, den Teller bereits gefüllt, ist er uns doch Schritt für Schritt um das Büfett gefolgt. Ein eher kleiner Mann, der Breite nach desto gewaltiger – indes beträgt sein Gewicht, so heißt es, nunmehr bloße 104 Kilogramm statt der 107 vom letzten Sommer. Eine zwiefache Uhrenkette schmückt seinen Bauch, dem Etikett einer Cognacflasche ähnlich; die Krawatte zieren gelbe und rote Punkte.

Und sieh da, neben ihm die vier Dozenten: Anton Ludvig Huund, ein hochgewachsener Mann, den Haarkranz zu kleinen Hörnern pomadisiert, doch sonst mehr einem Watvogel ähnlich. Fridtjuv Wallin, eine blonde Locke in die Stirn gezogen, in der Größe ihm fast ebenbürtig. Der dritte, Balle Bondeson, von eher pyknischer Figur, den rostroten Schnurrbart gezwirbelt. Und schließlich Gran ... ganz anders als die drei. Dieser Person haftet etwas Flüchtiges an, sie gleicht einer Zikade, die immer fliegt, fliegt und fliegend springt, allzeit eifrig, allzeit von neuen Aufgaben gefesselt. Zuweilen scheint sie in die Wolken entschwunden. Doch da ist ja auch dieses andere bei Gran, bei Dozentin Elisabet Gran, fünfundzwanzig Jahre alt und einzige Frau unter den Dozenten der Fakultät. Dort steht sie, Hering und Lachs auf dem Teller und einen doppelten Grenadier in der Hand; sie hat graublaue Augen und eine goldgefaßte Brille wie jeder beliebige Dozent, Haare wie Kupferdraht und trägt ein langes schwarzes Kleid. Dem Äußeren nach käme wohl keiner auf eine Academica.

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