»Was liegt gegen Brill oder Pribke eigentlich vor?«
»Mord beziehungsweise Beihilfe zum Mord in bis zu 30000 Fällen«, antwortete Dr. Frischmuth. »Der Mann war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Zeitlang als SS-Hauptsturmführer stellvertretender Kommandant des KZ Bergen-Belsen.«
»Unser Brill?« rief er schwerelos wie ein Schluckspecht im ersten Stadium. Er lachte, rauh und häßlich: »Erwin Brill, der Bückling?« Er wollte sein Gelächter unterdrücken und fiel in einen Hustenkrampf.
»Ich kann das wirklich nicht so lustig finden«, erwiderte der Erste Staatsanwalt pikiert.
»Natürlich nicht«, entgegnete Nareike und entschuldigte sich ein zweites Mal. »Ich hätte nur eine Bitte: Können wir die Festnahme unauffällig regeln und so weit wie möglich gegenüber der Öffentlichkeit abdichten?«
»Das liegt auch auf unserer Linie«, versicherte der Kriminalkommissar. »Wer hat eigentlich Pribke als Personalchef eingestellt?« fragte er dann.
»Der alte Müller, unser Firmengründer, persönlich. Aber sicher im guten Glauben, dafür verbürge ich mich.«
Der Kriminalkommissar erwiderte nichts.
»Brill hatte ausgezeichnete Referenzen von anderen Firmen.«
Ihrem Gesicht nach verglichen die beiden Beamten sie offensichtlich mit den Referenzen aus Bergen-Belsen.
Nareike ging in sein Vorzimmer: »Holen Sie Herrn Brill, Sabine«, bat er. »Er möchte sofort hierherkommen, auch wenn er in einer Besprechung ist.« Er sah sie an wie ein aus der Narkose erwachter Patient, begreifend, daß sein Herz die Operation durchgestanden hat, ein schneller Rekonvaleszent. »Und bitte kein Wort über die Sache im Betrieb.«
Die Blondine nickte, sie hatte längst begriffen, daß etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein mußte.
»Wie sind Sie auf ihn gekommen?« fragte Nareike die Beamten.
»Die Zentralstelle in Ludwigsburg«, antwortete Dr. Frischmuth, »bringt seit drei Jahren endlich System in die Ermittlungen.«
»Ziemlich spät«, entgegnete Nareike.
»Allerdings«, erwiderte der Staatsanwalt. »Aber dafür gründlich – und vielleicht doch nicht zu spät.«
»Darf ich den Herren einen Drink …«
»Ein andermal gerne«, antwortete der Beamte. »Jetzt ist wohl nicht der richtige Zeitpunkt dafür.«
Auch Nareike verzichtete; es fiel ihm schwer.
Dann kam Brill, grüßte höflich und stumm, wirkte wie immer, eine Spur zu beflissen, wie zum Sprung bereit, um seine Tüchtigkeit vorzuführen.
»Mensch, Brill«, riß Nareike das Gespräch an sich. »Entschuldigen Sie, meine Herren, bevor Sie in Ihre Amtshandlung eintreten, möchte ich in meiner Eigenschaft als Generalbevollmächtigter dieses Hauses unserem bisherigen Personalchef eine Frage vorlegen.«
Der Kommissar wollte es verhindern, aber Dr. Frischmuth gab ihm einen Wink, Nareike weitersprechen zu lassen.
»Heißen Sie Brill oder Pribke?«
Der Personalchef war nicht mehr beflissen. Er wirkte seltsam starr, gelähmt von einer Platzangst, auch seine Stimme hatte sich verloren.
»Brill«, sagte Nareike eindringlich. »Es interessiert mich einen Dreck, was Sie in Bergen-Belsen gemacht haben oder auch nicht. Das ist keine Angelegenheit unserer Firma. Sie waren hier Personalchef, zuständig für mehr als tausend Mitarbeiter, Sie haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, Müller & Sohn nicht in Ihre Scheißvergangenheit hineinzuziehen. Mein Vorschlag: Sie sagen jetzt die Wahrheit. Die Herren nehmen Sie mit, und ich erfinde eine provisorische Begründung für Ihren Abgang. Wenn wir uns auf diesen Modus einigen können, bin ich bereit, auf Firmenkosten Ihre Verteidigung zu übernehmen und dafür zu sorgen, daß Ihre Familie keine finanziellen Sorgen hat. Hören Sie mir zu, Mann?«
»Aber ja, Herr Nareike«, erwiderte Brill. Er sah in diesem Moment mehr kläglich als gefährlich aus. Es schien fast unvorstellbar, daß ihm in seiner früheren Tätigkeit auch nur die Hand ausgerutscht sein könnte.
»Bleiben Sie aber stur und gerät dadurch Müller & Sohn in die Schlagzeilen, dann sind Sie für mich abgeschrieben.« Hart setzte Nareike hinzu: »Und auch Ihre Familie, so leid es mir täte.« Er sah Brill durchdringend an. »Haben Sie mich verstanden?«
»Ich heiße Pribke«, demissionierte der Personalchef. »Erich Pribke. Ich war in meiner Eigenschaft als SS-Offizier auch neun Monate in Bergen-Belsen.« Er brach erschöpft ab, starrte auf den Boden. »Ich finde es sehr anständig, Herr Nareike, wenn Sie zu Ihrem Angebot …«
»Was ich verspreche, halte ich«, sagte der Geschäftsführer mit leichter Überbetonung. »Auch wenn Sie uns ganz schön hinters Licht geführt haben.«
»Besten Dank, Herr Nareike.«
Der Entlarvte dienerte schon wieder.
»Herr Pribke«, sagte Oberstaatsanwalt Dr. Frischmuth. »Ich eröffne Ihnen, daß gegen Sie ein Haftbefehl des Landgerichts Essen vorliegt.«
Es war, als streckte ihm der Delinquent die Hände hin, aber die Beamten verzichteten auf Handschellen.
»Denken Sie bitte an die tausend Arbeitsplätze bei Müller & Sohn«, verabschiedete Nareike die Beamten. »Wir sind ein exportabhängiges Unternehmen, und das Ausland kann auf solche Geschichten ja ganz schön allergisch reagieren.«
»Besten Dank für Ihre Hilfe«, sagte der Kommissar.
Brill ging wie geschoben, den Blick am Boden, Schritt für Schritt, als sei ihm schwindlig oder als hätte er das Laufen verlernt. Einen Moment lang fragte sich Nareike, ob er an Stelle seines Personalchefs besser ausgesehen hätte. Er goß sich mit Bedacht einen ganz großen »Rémy« ein und trank ihn mit Genuß aus. Ohnedies hatte er seinen Aktionsplan durch Alkohol ein wenig verwässert, um die letzte Durststrecke besser durchzustehen.
Erst jetzt erfaßte er, wie gut es war, daß er die Himmler-Kapseln nicht im Geschäftstresor, sondern im Privatsafe seiner Wohnung verwahrt und es nur in der ersten Panik vergessen hatte – aber Glück hatte auf die Dauer eben nur der Tüchtige.
»Sabine«, rief er und betrachtete die Eintretende zwei Sekunden zu lang. Dem Fiasko entgangen, wunderte sich Nareike, wie nahe alles nebeneinanderlag: Cyankali und Cognac, die reizlose Ehefrau und die aufreizende Blondine, die Dollarmillion und die Handschellen, das pompöse Chefbüro und die enge Zelle, und bald auch seine einzige Mitwisserin, sicher verwahrt an einem zwei Meter langen, einen Meter breiten und zwei Meter tiefen Ort, während er seinem Traum den Arm böte.
»Haben Sie mitbekommen, was sich hier abgespielt hat?« fragte er Sabine.
»Ist Herr Brill verhaftet worden?«
»Ja. Sehr unangenehm für unsere Firma. Ist der Senior im Haus?«
»Herr Müller ist weggefahren«, erwiderte sie. »Aber der Junior …«
»Nein, danke«, entgegnete Nareike, er wollte noch etwas hinzusetzen, versagte es sich aber. Ohnedies hatte er oft genug vor seinen Mitarbeitern dem Junior den »Vollbesitz geistiger Unfähigkeit« bescheinigt. »Also, Sabine, bitten Sie so rasch wie möglich unseren Pressemann, den Werbechef und den Syndikus Dr. Schneider zu mir und lassen Sie es mich sofort wissen, wenn der alte Müller wieder im Hause ist.«
Er sah ihr nach und schloß seine Bar. Er ging auf und ab, noch immer sehr erregt, doch auch zufrieden mit sich und dem Tag. Und eine Warnung, vorsichtig zu sein, konnte nicht schaden. Er schaltete das Radio ein, obwohl er sicher war, daß die Behörden die Verhaftung Pribkes noch eine Weile verschweigen würden. Bis sie eine dürftige Mitteilung herausgäben, hätte er mit Hilfe seiner Werbeabteilung den Zeitungen schon beigebracht, den Fall Pribke-Brill auf kleiner Flamme zu kochen, zumal er sie auch wissen ließe, welche anderen Firmen, Namen und Anzeigenkunden andernfalls noch mit in die Affäre verstrickt würden.
Plötzlich traf Nareike ein Name wie ein Fausthieb: »New York«, sagte der Nachrichten-Sprecher: »Wie UP in einer Blitzmeldung soeben bekannt gibt, hat der israelische Staatspräsident die Begnadigung des vom Bezirksgericht Jerusalem am 15. Februar 1961 zum Tode verurteilten SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann abgelehnt; seine Hinrichtung steht unmittelbar bevor. Der ehemalige Judenreferent im Reichssicherheitshauptamt war am 11. Mai 1960 vom israelischen Geheimdienst aus Argentinien entführt worden und später als Beauftragter der Endlösung der Judenfrage angeklagt …«
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