»Spielt das denn eine Rolle?« fragte sie.
»Und ob«, antwortete er. »Denk doch an dieses Kainszeichen.« Horst meinte die Blutgruppenkennzeichnung, die den Männern des Schwarzen Ordens so auf die Haut geschrieben worden war, daß sie sich nachträglich nicht mehr entfernen ließ, es sei denn mit der Haut zusammen: »Es könnte ja sonst einer an Nareikes Identität zweifeln.« Er grinste.
»Der Mann ist tot?«
»Gründlich. Darauf kannst du dich verlassen«, versetzte er. »Beileidsbekundungen gibt es auch nicht. Keine Verwandte, keine Freunde – eigentlich hat mein Alter ego genauso zurückgezogen gelebt wie ich.«
»Bis auf die Blondinen …«, erwiderte Hannelore spitz.
»Täusch dich nicht«, versetzte er grinsend. »Ein paar Weibergeschichten hatte auch dieser Nareike am Buckel.«
»Dann ist die neue Identität ja wie maßgeschneidert für dich.«
»Ganz klar«, entgegnete er. »Soll sie ja wohl auch sein.« Er schlüpfte in die Zivilkleider und umarmte Hannelore flüchtig, aber für Zärtlichkeit war nun wirklich keine Zeit.
»Und wie geht das weiter – mit uns?« fragte sie.
»Ich werde mich um dich kümmern«, versprach er. »Sobald es geht.«
»Wie nett von dir«, antwortete sie.
Er hörte ihren Unterton von Spott heraus: »Reiß dich am Riemen«, fuhr er sie an. »Und nun hör gut zu«, sagte Horst und trichterte ihr die Regeln ein, nach denen sie künftig leben müßte, falls sie wünschte, daß ihr Mann am Leben bliebe und sie ihn wiedersähe.
Hannelore sah ihm nach und überlegte, was sie mit einem machen würden, der einen US-Captain auf der Flucht erschossen hatte. Die anderen Dinge, die sie Horst vorwarfen, hielt sie für Unsinn, für die Rache eines gedemütigten Mitarbeiters, es war wohl der Preis, den Horst für seine Arroganz und Selbstherrlichkeit zu bezahlen hatte. Obwohl sie seinen Egoismus kannte, bestätigte sie sich tapfer, daß ein widerwärtiger Schürzenjäger noch lange kein krimineller Menschenhändler sei. Seit Hannelore verheiratet war, war sie durch alle Höhen und Tiefen einer Haß-Liebe gegangen, aber je weiter sich der Flüchtige jetzt von ihr entfernte, desto größer wurde die Liebe und desto kleiner der Haß. Sie sagte sich, daß ein Zusammentreffen unter diesen Umständen gar nicht anders verlaufen konnte, und daß sie hier auf dem Lande lebte, völlig unangefochten, unter falschem und doch amtlichem Namen, und das als Tochter des Reichsleiters Dannemann und Ehefrau des Wehrwirtschaftsführers Linsenbusch, das verdankte sie ausschließlich Horst. Andere Frauen Prominenter wären in ihrer Lage ins Interniertenlager gekommen, das ihr – dank Horsts Fürsorge – erspart geblieben war. Hannelore hielt das auch für gerecht, denn eigentlich war sie immer unpolitisch gewesen, auch wenn sie immer an den Führer geglaubt hatte. Vielleicht glaubte sie auch heute noch an ihn, aber sie wollte nichts mehr davon hören, nichts über ihn und nichts über die Untaten, die man ihm seit Kriegsende vorwarf.
Hannelore las keine Zeitung. Sie sprach kaum mit einem Dorfbewohner, und über die Zeitläufe schon gar nicht. Ab und zu schaltete sie das Radio ein, um wenigstens eine Stimme zu hören, die die Einsamkeit mit ihr teilte. Plötzlich sagte der Nachrichtensprecher: »Heute morgen wurden folgende, von US-Militär-Gerichten zum Tode verurteilten Häftlinge in Landsberg gehängt …«
Sie horchte angespannt, bangte, bei jeder Nennung Horsts Namen zu hören, fürchtete, daß er hingerichtet und sie ihn nie mehr wiedersehen würde – und das nach einem so kühlen Abschied. Von nun an saß sie täglich am Radio und hörte bestürzt die Morgennachrichten. Eine Zeitlang war sie sogar versucht, sich zu stellen und ihren richtigen Namen zu gestehen, und dafür das Recht einzutauschen, Horst noch einmal zu sehen, bevor sie ihn hängten. Aber vielleicht hatten ihn die Amerikaner gar nicht wieder gefaßt.
Die Exekutionen von Landsberg gingen weiter. Der Sprecher nannte noch viele Namen – aber seine Frau erhielt das erste Überlebenszeichen von Horst beziehungsweise Werner. Freiwillig oder nicht: Er hatte Wort gehalten, hatte sich nach ein paar Monaten aus Westdeutschland gemeldet. Er ließ ihr Geld zukommen, nicht viel, doch allmählich immer mehr. Hannelore wußte, daß er nicht kleinlich, sondern nur vorsichtig war. Geiz war nicht seine Schwäche; er hatte schlimmere, und sie durfte ohnedies, um nicht aufzufallen, das Geld nur heimlich ausgeben, bis sie wieder an ihr mütterliches Erbe herankäme.
»Bedanke mich, Herr Kollege«, sagte Amtsrichter Dr. Kleinwacht, legte auf und sah, daß die Besucherin hochschreckte: »Also, Frau Linsenbusch«, wandte er sich an die Besucherin, offensichtlich erleichtert, daß er sie nicht mit bürokratischen Schikanen traktieren mußte: »Die Staatsanwaltschaft hat bis jetzt keine Einwände erhoben. Wir werden in den nächsten Tagen die Akten zurückerhalten. Ich denke, daß das erste Aufgebot in der Verschollenheitsliste des ›Bundesanzeigers‹ vielleicht schon in einer der nächsten Ausgaben stehen kann.«
Er stand auf und wunderte sich, daß sich die Besucherin kaum bedankte, aber Hannelore Linsenbusch war zerstreut, denn sie rechnete, überprüfte das Resultat und addierte noch einmal: Juni, Juli, August, dann wäre die Einspruchsfrist vorbei. Sie wußte, daß ihr ein heißer Sommer bevorstand.
Immer wieder hatte Nareike diese Szene als Alptraum erlebt. Er goß sich vor den Augen des Ersten Staatsanwalts Dr. Frischmuth und des ihn begleitenden Kriminalkommissars rasch noch einen »Rémy« ein und kippte den Schnaps hinunter, als sei es der letzte in seinem Leben oder zumindest für lange Zeit: »Haftbefehl?« fragte er mit taumelnder Stimme.
»Ja. Ausgestellt vom Landgericht Essen.«
Der Beamte reichte ihm das Schreiben.
Nareike starrte es an, unfähig zu lesen. Die Wörter zerbrökkelten vor seinen Augen wie die Dollarmillion, wie Sabine und alle weiteren Pläne: Aus, vorbei, vergebens, zu spät, gescheitert!
»Ich nehme an, es ist auch in Ihrem Intersse, Herr Nareike«, sagte der Staatsanwalt, »die Sache so unauffällig wie möglich über die Bühne zu ziehen.«
Der Bevollmächtigte von Müller & Sohn nickte mit steifem Nacken. Er spürte seinen Halswirbel, als wäre er wieder in Landsberg. Ob er hier nun Spießruten liefe oder nicht, wäre letztlich unwichtig. Sein Mund war trocken, und doch schmeckte sein Speichel nach Seife. Es kam vom Cognac. Er merkte, wie das Blut in seinen Schädel strömte, wie sein Kopf schwoll und schwoll, so sehr, als würde er gleich platzen. Er wollte trotz allem keine schlechte Figur machen. Er sah wieder auf den Haftbefehl, merkte, daß sich die Buchstaben langsamer drehten, schließlich stehenblieben, seltsam aneinandergelehnt, als müßten sie sich stützen, während sie sich zu Worten, Sätzen und Begriffen formten.
Ohne Begreifen, blieb er an einem Namen hängen: Erich Pribke.
»Kenn ich nicht«, sagte er. »Nie gehört.«
»Das wundert mich nicht«, antwortete Dr. Frischmuth geduldig: »So heißt der Mann, den wir suchen, tatsächlich.« Es erstaunte ihn doch, daß ein Manager in einer solchen Position so langsam begriff. »Ist Ihnen nicht gut?« fragte er.
»Doch, doch …«
»Erwin Brill ist nur der Name, den sich der Gesuchte zugelegt hat.«
»Wie ist denn so etwas überhaupt möglich?« fragte Nareike, der es am besten wissen müßte. Der Stau in seinem Kopf hatte sich aufgelöst. Seine Reaktionsfähigkeit war zurückgekehrt. »Nehmen Sie doch Platz, meine Herren.« Er tippte sich an den Kopf. »Ich bitte Sie, meine Unhöflichkeit zu entschuldigen, aber ihre Eröffnung hat mich so überrumpelt, daß …«
»Tut mir leid«, erwiderte der Kriminalkommissar. »Wir hätten es Ihnen gern erspart, aber durch unsere Ermittlungen sind wir in den letzten Tagen so in die Nähe des Angeschuldigten gekommen, daß Gefahr in Verzug bestand.« Er sah Nareike an. »Fluchtgefahr.«
Читать дальше