Nareike ging an seinen Tresor.
Er suchte die Himmler-Ampulle aus seinem braunen Koffer – er mußte das Gift nun doch noch schlucken – 17 Jahre danach, als letzte Medizin, und Medizin ist bitter.
»Entschuldigen Sie«, sagte der vordere der beiden Besucher, die nicht mehr länger gewartet hatten.
Nareike fuhr herum und erfaßte, daß er ein letztesmal zu spät gekommen war.
Am letzten Mai-Tag herrschte auf der Geschäftsstelle des Amtsgerichts Rosenheim dichtes Gedränge, als seien alle Verkehrssünder, Streithanseln und Bittsteller aus dem Landkreis auf einmal erschienen. Inspektor Dirscherl kannte nach 40 Amtsjahren seine Pappenheimer und hatte eine besondere Art, mit ihnen umzugehen. Er kanalisierte den Parteienverkehr dickköpfig und bauernschlau. Nach seiner Meinung begriffen die Besucher ohnedies das Behörden-Abc nicht, und so sollten sie tun, was man ihnen sagte, ohne viel zu fragen. Um sie soweit zu bringen, ließ der Beamte sie erst einmal am Gang warten, um sie dann kurz und bündig abzufertigen.
»Sie sind also gar nicht vorgeladen?« schüchterte er die nächste Besucherin ein: »Wie heißen’s denn überhaupt?«
»Hannelore Linsenbusch«, erwiderte die Frau im dunkelblauen Kostüm. »Ich habe die Toterklärung meines Mannes beantragt und …«
»Und?« fragte Dirscherl, als Ur-Bayer ohnedies schlecht auf norddeutsche Landsleute zu sprechen: »Hab’ ich Eahna net g’sagt, daß des net so schnell geh’ koa?«
»Ich will ja auch nur erfahren, wie es steht.«
»Sie san guat«, erwiderte der Inspektor: »Z’erst lassen’s Eahna zehn Jahr Zeit mit’m Antrag, und jetzt soll’n wir hudeln, weil’s Eahna so paßt. Warum pressiert’s denn auf amal gar a so?« fragte Dirscherl ungnädig und setzte plump hinzu: »Wolln’s vielleicht wieder heiraten?«
Er warf einen grantigen Blick auf den neuen Amtsrichter, der in die offene Tür trat.
»Bitte etwas leiser, wenn’s geht«, wies er seinen Geschäftsleiter zurecht. »Dr. Kleinwacht«, stellte er sich der Besucherin vor. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Entschuldigen Sie, Herr Doktor«, entgegnete Frau Linsenbusch. »Ich stehe ganz allein. Mein Mann ist seit 17 Jahren verschollen und …«
»Bringen Sie mir mal die Unterlagen, Herr Dirscherl«, befahl er seinem Inspektor. »Bitte«, lud er die Besucherin in sein Büro ein. Ob er sie anhörte oder es ablehnte, mit ihr zu sprechen, war genauso in sein Ermessen gestellt wie die Entscheidung, ob er ihren Angaben traute oder ob er sie bezweifelte. Nur im Falle eines begründeten Verdachtes war er von Amts wegen verpflichtet, eine nähere Untersuchung einleiten zu lassen. Da es Vermißtenfälle zu Tausenden gegeben hatte, war man zwangsläufig zum Fließbandverfahren übergegangen.
»Und dann woaß die no net amal die Nummer vom Aktenzeichen, die, die Büchselmadam«, schimpfte Dirscherl hinter seinem Chef her, fand aber das Dossier dann mit dem ersten Griff.
»Ich habe sehr lange gezögert, diesen Antrag zu stellen«, erklärte die Besucherin. »Ich hatte ja immer gehofft, daß mein Mann noch lebt, und ich wollte mir doch diese Illusion nicht selber nehmen.«
»Das verstehe ich schon«, erwiderte der Amtsrichter. »Wie ist es denn mit Ihren Rentenansprüchen?«
»Soweit habe ich noch gar nicht gedacht, Herr Amtsgerichtsrat«, erwiderte die Besucherin und setzte nach einer kurzen Pause hinzu: »Wirtschaftlich geht es mir nicht schlecht, weil ich von meiner Mutter zwei Häuser in Berlin geerbt habe.«
Die Frau, die Witwe werden wollte, saß am äußersten Ende des Stuhls, sie wirkte zerbrechlich, doch auch zäh. Man merkte ihr an, daß sie wenig Umgang mit Behörden hatte und daß ihr in Amtsstuben nicht wohl war. Dabei lebte sie in einem seelischen Hoch seit ihrer weihnachtlichen Begegnung mit Horst, den sie Werner nennen mußte. Als er ihr seinen Plan eröffnet hatte, war sie zunächst erschrocken. Trotz der ungewöhnlichen Lebensweise, die ihr die Umstände auferlegten, war sie eine bürgerliche Person. Es ging gegen ihre angeborene Rechtschaffenheit, eine Lüge an Eidesstatt zu erklären und dadurch ein paar Jahre Gefängnis zu riskieren.
Aber noch vor seiner Abreise aus München hatte Horst sie überzeugt: Jede Verfolgung gegen ihn wäre eingestellt, wenn es ihn nicht mehr gäbe. Kein deutscher Staatsanwalt würde sich jemals mehr für Horst Linsenbusch interessieren, und selbst wenn die deutsch-französischen Verhandlungen über die Behandlung von Kriegsverbrechern – die man jetzt immerhin schon Kriegsverurteilte nannte – unglücklich für ihren Mann ausgehen sollten, hätte er für alle Zeiten weder die Auslieferung in das Nachbarland, noch eine Verurteilung in Deutschland zu fürchten.
Weit mehr als diese Argumente des Verstandes hatte die Witwe ein Aufstand des Gefühls angesprochen. Eine Patentlösung: Der König ist tot – es lebe der König; Horst ist gestorben – und sie würde Frau Nareike. Namen sind Schall und Rauch, aber die Zeit der Einsamkeit wäre vorbei, ein für allemal ausgestanden, dank Mut, Bedenkenlosigkeit und Initiative.
Dr. Kleinwacht sichtete routiniert die Unterlagen: »Soweit ich sehe, ist alles in Ordnung, Frau – Frau Linsenbusch. Der Antrag ist formal richtig nach dem Verschollenheitsänderungsgesetz vom 15. Januar 51 gestellt.« Er blätterte weiter. »Sie haben die Geburtsurkunde des Verschollenen und Ihre Heiratsurkunde vorgelegt.« Er ging den Akt durch: »Der letzte Wohnsitz Ihres Mannes lag östlich der Oder-Neiße.« Die nächste Seite: »Für Sie ist deshalb Berlin-Schönefeld zuständig.« Er blätterte wieder um. »Da haben wir ja schon die Antwort: Berlin hat die Zuständigkeit an den Landkreis Rosenheim, in dem Sie jetzt leben, abgetreten.« Die nächste Seite: »Und hier, hier haben wir Ihre Eidesstattliche Erklärung vom 7. Januar.«
Er wechselte die Brille und las:
»Ich habe meinen Mann zum letztenmal Anfang Januar 45 gesehen. Er arbeitete damals bei einer Staatsfirma in Berlin, kam kurz nach Breslau und bestürmte mich, wegen der heranrückenden Russen unverzüglich nach Oberbayern zu übersiedeln, was ich auch tat.
Seitdem habe ich nichts mehr von meinem Mann gehört, nichts außer Gerüchten. Durch Hörensagen erfuhr ich, daß er aus Kriegsgefangenschaft ausgebrochen und dabei umgekommen sein soll. Gegen diesen Gedanken habe ich mich lange gewehrt, aber als ich viele bittere Jahre lang kein Lebenszeichen mehr von Horst erhielt, keinen Brief, keinen Telefonanruf, auch keinerlei Nachricht durch Dritte, mußte ich mich mit dem Gedanken abfinden, daß er nicht mehr am Leben ist.
Trotzdem habe ich bis in die letzte Zeit hinein nichts unversucht gelassen, um das Schicksal meines Mannes aufzuhellen: Ich habe mich an den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes gewandt und an die Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (siehe Anlagen). Ich habe auch alle privaten Quellen ausgeschöpft, die mir zugänglich waren, habe mich insbesondere an die Schlesische Landsmannschaft gewandt, die mir keinerlei Hinweis geben konnte. Nach 17 Jahren vergeblichen Wartens und Suchens gelangte ich zu der bitteren Erkenntnis, daß mein Mann tatsächlich umgekommen ist.
Wir haben – nur durch den Krieg über längere Abschnitte getrennt – in einer sehr harmonischen Ehe gelebt. Unser einziger Sohn ist in den letzten Tagen des Krieges gefallen. Es gibt auch keinerlei Grund zu der Annahme, daß mein Mann sich bei mir nicht unverzüglich melden würde, so er das noch könnte.
Die Richtigkeit der vorstehenden Angaben versichere ich soweit sie nicht durch Urkunden belegt sind – nach entsprechender Belehrung an Eidesstatt. Insbesondere versichere ich, daß ich nicht im Besitz von Unterlagen bin, denen entnommen werden könnte, daß der Tod des Verschollenen zweifelhaft ist.
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