Weidevieh quoll dem Fahrzeug aus den Toren von El-Ariana entgegen. Erst als man in die Strassen des Araberfleckens einbog, verloren sich die Herden. Hier war es mit einem Male ganz still. Tot, wie ausgestorben standen zu beiden Seiten der schmalen Hauptstrasse die fensterlosen Hausfronten, ihre weisse Tünche nur an einer Stelle von der festverschlossenen Tür durchbrochen. Manche der aus ungebranntem Lehm zusammengebackenen Gebäude lagen, wie in all diesen Saharastädten, halb oder ganz in Trümmern und bildeten verödete Schutthaufen. Bei vielen anderen der düsteren, geheimnisvollen, überall am Eingang mit korinthischen Säulen und Riesenquadern der Römerzeit gestützten Eulennester wusste man nicht: waren sie nie fertig geworden oder schon wieder zerfallen, waren sie noch bewohnt oder bereits wieder gleich einem morsch und löcherig gewordenen Zelt in der Wüste unbenutzt ihrem Schicksal überlassen?
Jetzt hielt die Arabâ vor einem niedrigen Haus, das zwar durch Glasfenster und einen Holzvorbau einen halb europäischen Eindruck machte, sonst aber durch seinen Schmutz und seine Baufälligkeit wenig einlud. Es schien eine Kneipe zu sein. „Au Simbad le Marin“ stand auf dem Schild — „Zum Seefahrer Sindbad“. Und an solch einen Abenteurer, Flibustier und Piraten erinnerte der weissbärtige, kleine, aber in den Schultern breite und stämmige Kerl, der auf die Schwelle trat. Seine schlauen, wässerigen Augen funkelten. Er gestikulierte lebhaft und drang hastig auf Yvonne ein. Yvonne war erschreckt. Und da sie nicht antwortete, beteiligten sich auch die Gäste des Hauses, ein paar in zerfetzte und kalkbespritzte Röcke und Hosen gekleidete Maurergesellen, an dem Lärm. Ein grinsender Neger schrie dazwischen und machte Miene, den Koffer vom Wagen zu ziehen. Einige Araber traten dazu, um zu sehen, was es gäbe. Sie luden die Fremde durch aufmunternde Gebärden ein, sich den „Seefahrer Sindbad“ doch im Inneren anzusehen. Schliesslich stand wohl ein Dutzend Männer um den Wagen. Drinnen kauerte Yvonne Roland mit zornfunkelnden Augen und hochgezogenen Knien, den Tropenhelm schief auf dem Kopf, die eine Hand in der Tasche, um im Notfall nach dem Revolver langen zu können, die andere Hand schützend über ihre Siebensachen gebreitet. Sie war erbost, aber keineswegs verschüchtert, sondern hauptsächlich voll Wut auf diesen alten Kutscher da vorne, der ganz ohne Grund mit seinem Karren hielt, als sollte sie in aller Ewigkeit vor dieser Kneipe bleiben.
Plötzlich fiel ihr mit Schrecken ein: sie hatte ja ganz vergessen, gestern abend dem Mann durch Vermittelung der Missionarinnen sagen zu lassen, wohin er eigentlich in El-Ariana fahren sollte. Nun lud er sie natürlich vor der Herberge ab, wahrscheinlich der einzigen am Ort.
Aus dieser waren inzwischen noch ein paar schlampige, gelbliche Weiber in bunten Kopftüchern erschienen und nahmen in einem unbewachten Augenblick den Sonnenschirm der Fremden in Verwahrung. Zwei, drei Eingeborene in ihrer sonderbaren Tracht, einem turmartigen, spitzen Schleiergebäude auf dem Kopf, einem ganz kurzen weissen Jäckchen und weiten weissen Hosen, waren aus einer Seitengasse so hastig herbeigewatschelt, dass sie fast die gestickten Pantoffeln von den blossen Füssen verloren. Yvonne Roland blickte entschlossen, ihre erhöhte Verteidigungsstellung zwischen den Rädern nicht zu verlassen, aber doch sonst ratlos darein. Nirgends war ein hilfreicher, nirgends ein vernünftiger Mensch zu sehen. Und als sie nun in heller Wut auf ihren Revolver zeigte, musste sie ihn gleich wieder einstecken, so gross war das Geschrei, die Abwehr und das Gelächter. Selbst unter den rabenschwarzen, glockenartigen Gebilden, die etwas abseits in stummer Neugier standen — von Kopf bis zu Fuss nach strenger Sitte Südtunesiens unkenntlich verhüllten Maurinnen —, selbst unter diesen Schleiermassen schüttelte es sich vor Gekicher.
Da mussten diese wandelnden Trauerglocken beiseite treten. Es kam in raschem Hufklappern um die Ecke, im geräumigen Schritt eines Pferdes, so wie heute die ganze Nacht hindurch — ein sonnenbrauner Jäger auf einem Schimmel ward sichtbar und lenkte seinen Gaul ohne weiteres mitten durch die Haufen der Menschen, als ob das ein aufgescheuchter Schwarm Spatzen wäre. Er rief dem Kärrner auf arabisch ein paar rauhe Worte zu, ihm weiter durch die stillen weissen Hausmauern der Strasse vor ihnen zu folgen. Dort angelangt, hielt er sich neben dem Wagen. Die Gasse war so eng und düster wie ein Festungsgraben. Sein Knie berührte fast das Rad der Arabâ. So zogen sie in dem stillen Schatten dahin, in den von oben, vom blauen Himmel her, über den Rand der flachen Dächer allerhand grünes Schlinggewächs, rote Blumensterne, violette Dolden im Winde schaukelten und wehten, und in dem ab und zu ein paar spielende Kinder lautlos in dämmerige Höfe huschten. Nun besann sich Yvonne Roland erst und forschte: „Wie kommen Sie denn nur auf einmal hierher?“
„Sehr einfach: ich bin ebenso wie Sie die Nacht auf der Strasse gewesen ...“
„Ach — dann waren Sie das, von dem man immer das Hufgetrappel gehört hat?“
„Wahrscheinlich war ich zufällig immer hinter Ihnen.“
Sie war unbefangen genug, seine Gleichgültigkeit für bare Münze zu nehmen. Sie sagte, im Karren kauernd und wieder die Hände über den Knien faltend: „Ach so! ... Dann ist’s ja gut ... Aber bitte schauen Sie mich nicht so an!“
„Warum denn nicht?“
„Weil ich so greulich ausseh’, ganz verwildert ... nach solch einer Nacht ...“ Sie blickte ein wenig verlegen, im Gefühl ihrer Zigeunerhaftigkeit, vor sich nieder. Erst nach einer Weile hob sie wieder die Wimpern. Nun schaute er im Sattel von ihr weg, geradeaus. Sie musterte ihn unwillkürlich. Dem machte solch ein Ritt natürlich nichts aus! Der war wie dazu geschaffen. Eigentlich gefiel er ihr sehr gut, und sie betrachtete ihn immer noch, als er sich plötzlich umwandte und fragte: „Warum schauen Sie mich denn nun so an, Mademoiselle Roland?“
„Weil ...“ Sie stockte, fasste dann Mut und sagte schnell: „Man hat mir erzählt, Sie wären auch hier Soldat gewesen!“
„Ja — ich war auch Soldat.“ Weiter sagte er nichts. Sie wagte nicht, weiter zu forschen. Da wies er schon mit der Hand auf einen vor ihnen sich öffnenden freien Platz. „Hier ist die Kasbah — die Zitadelle ...“
Es war das Unwahrscheinlichste, was hier unter afrikanischem Himmel, von der Sahara umgeben, im zwanzigsten Jahrhundert stehen konnte: die Zeiten der Römer Waren wieder lebendig geworden. So wie die Legionen einst dies Kastell am Palmenhochwald errichtet und die Byzantiner es ausgebaut hatten, so trotzte es jetzt noch, ein riesiges, hochragendes Mauerviereck mit geschnörkelten Zinnen und schlanken Warttürmen und Torbögen und Gräben, unter dem Blau des Himmels, im Gelb des Wüstensandes aus dem grauen Felsboden weit über die Lande, ein düsteres Zwing-Uri, ein steinernes Sinnbild der Macht. Ein paar Dattelbäume hoben aus dem Innern ihre grünen Kronen über den Mauerkranz und rauschten im Morgenwind. Sonst rührte sich nichts. Die grosse Eingangspforte war fest verschlossen. Es dauerte einige Zeit, bis sie sich langsam auf das Klopfen hin öffnete und der Wachtposten, ein diensthabender Unteroffizier, herzukam.
Dieser, ein baumlanger, hübscher Mensch, steckte seinen Blondkopf durch den Spalt und sah verdutzt auf die Fremde, die da vor ihm stand, jung und schlank, den weissen Tropenhelm immer noch schief auf dem Kopf. Sie wollte ohne weiteres an ihm vorbei und hinein. Aber er wehrte ihr. Jetzt ging das nicht! Zu dieser frühen Morgenstunde! Ob ein Kranker einen Besuch empfangen konnte oder nicht, darüber musste der Stabsarzt entscheiden!
„Aber ich kann nicht warten, Monsieur!“ sagte Yvonne Roland entschieden. Ihre Stimme bebte vor Ungeduld, ihre Hände ballten sich im Zorn. „Ich muss zu meinem Bruder!“
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