Doch die Vorgehensweise war dieselbe, das sah Lacroix auf den ersten Blick: Ein Mann, etwas jünger als George Maille, mit schwarzem dichten Haar. Die Augen standen offen, waren blutunterlaufen. Die Hände lagen verkrampft neben dem Toten. Die Wunde am Hals war riesig. Ein Schnitt mit mächtiger Gewalt ausgeführt, die Kehle klaffend offen zurückgelassen. Doch diesmal war die Wunde ausgefranst, Hautfetzen hingen herab, als wäre der Schnitt nicht ganz so sauber ausgeführt worden.
»Wo ist Docteur Obert? Und wer hat den Mann gefunden?«
»Der Docteur geht nicht ans Telefon. Die Zentrale schickt gerade einen Wagen zu seiner Wohnung. Dort oben sitzt ein anderer Clochard, er hat den Mann gefunden und uns sofort angerufen«, sagte Rio.
Lacroix trat näher. Hinter dem Mann stand ein Rucksack, deutlich kleiner als der des ersten Opfers. Daneben lagen drei leere Bierdosen, die klein gedrückt waren, als hätte sie ein Riese in der Faust zerknüllt.
Er griff in die Jackentasche des Toten und vermied dabei, ihn zu berühren. Nichts. Dann sah er, dass eine Hosentasche ausgebeult war. Er beugte sich tiefer und entnahm der speckigen Jeans ein kleines Portemonnaie. Wieder war kein Geld darin. Es konnte sich also um Raubmord handeln, falls überhaupt etwas in dem Portemonnaie gewesen war. Lacroix zog die carte d’identité des Mannes hervor.
»Bertrand Valls«, las er. »Geboren 1955 in Douai, Nord-Pas-de-Calais. Wieder eine Amtsadresse, dieses Mal vom Rathaus im Zwanzigsten. Finden Sie alles über den Mann heraus, Paganelli. Fahren Sie am besten direkt ins Büro. Rio und ich machen hier weiter.«
»Alles klar. Ich mach mich auf die Socken.«
»Sieht nicht gut aus«, sagte Rio, als sie sich den Schnitt näher besah. »Ich weiß nicht, ob man da schnell tot ist. Das sind erbärmliche Schmerzen, denke ich. Als wenn man Lämmer schächtet.«
Rio war auf einem Bauernhof auf Mayotte aufgewachsen. Sie hatte keinerlei Berührungsängste, egal ob Tier- oder Menschenblut.
»Es ist eine elende Schweinerei«, rief Lacroix auf einmal wie aus dem Nichts und fing an, auf und ab zu laufen. »Ich habe mich benommen wie ein Amateur. Warum habe ich nicht über einen Folgemord nachgedacht?«
Die Kollegen schwiegen und sahen betreten zu Boden.
»Und nun stehen wir hier keine vierundzwanzig Stunden später vor dem nächsten Toten. Merde! «
»Commissaire«, sagte Rio mit ruhiger Stimme, »wie oft haben wir solche Fälle: ein Streit oder ein Raub oder irgendetwas in der Art? Das gibt es doch in der Szene immer wieder. Machen Sie sich keine Vorwürfe. Das konnten wir nicht vorhersehen. Es sah gestern aus wie ein einfacher Mord aus Habgier. Ein Einzelfall. Nun aber …«
Lacroix fröstelte. Es war heller geworden, doch die Sonne war nicht zu sehen. Dichte Wolken belagerten den Pariser Morgenhimmel. Es würde der erste echte Herbsttag werden.
»Gut, Rio. Ich gehe hoch zu dem Mann, der ihn gefunden hat. Können Sie hier auf den Docteur warten? Ich möchte schnelle Ergebnisse, und zwar auch zum Tod von George Maille. Falls wir es wirklich mit jemandem zu tun haben, der es auf die Obdachlosen abgesehen hat …«
Die Sanitäter hatten ihm eine Decke umgelegt, doch der Mann zitterte immer noch am ganzen Körper. Eben nahm er einen Schluck aus seinem Flachmann, ein gebürstetes glänzendes Fläschchen. Lacroix sehnte sich nach seinem ersten café . Und zurück in sein warmes Bett. Neben Dominique, am besten in der Auvergne. Hauptsache, weit weg von hier. Er nickte dem Sanitäter zu und ging zu dem Mann, der offensichtlich aus Nordafrika stammte. Er hockte auf der Quaimauer und starrte ins Leere.
»Monsieur, mein Name ist Commissaire Lacroix. Es tut mir leid, dass Sie das sehen mussten. Ich muss Ihnen dennoch einige Fragen stellen.«
Der Mann reagierte nicht, er blickte weiter die Straße runter in Richtung Notre-Dame.
»Monsieur?« Lacroix hatte etwas lauter gesprochen, und nun schaute der Mann auf, sah ihm in die Augen.
» Oui? Wer sind Sie?«
»Commissaire Lacroix von der Police nationale. Wie heißen Sie?«
»Bakir.«
»Bakir, gut. Sie haben den Toten gefunden?«
Bei diesen Worten fing der Mann wieder an zu zittern, senkte den Blick. Hinter ihnen wurde der Himmel heller, doch die Wolkendecke blieb dicht und undurchdringbar. Lacroix zog den Mantel enger um sich.
»Ich … Ja, ich kam von dahinten. Er zeigte Richtung Kirche. Ich wollte hier die Treppe nehmen hinauf zum Marché aux fleurs . Da sitze ich jeden Tag.« Er zeigte auf das Schild, das aus seinem Rucksack ragte. Taub und stumm , stand darauf in krakeliger Schrift. Bitte um eine Spende für meine Familie. »Ich hab sofort gesehen, wie viel Blut da ist. Ich wusste ja, was gestern passiert war, und habe sofort gedacht: verdammt.« Er schüttelte fortwährend den Kopf. »Ich dachte erst, dass Sie gestern nicht richtig saubergemacht haben. Aber dann sah ich ihn da liegen. Ich bin hin, ich wollte es gar nicht sehen. Wissen Sie, ich habe im Krieg in Algerien genug Leichen …« Seine Stimme brach ab. Der Mann kämpfte mit den Erinnerungen, die der Tote in ihm geweckt hatte. »Er ist so brutal gestorben, ich habe das auf den ersten Blick gesehen. Ich musste schnell weg, ich habe sofort die Polizei gerufen.«
»Wann war das genau?«
»Um halb fünf vielleicht. Ich bin gern früh da oben. Ab halb sechs kommen die ersten Markthändler und die Früharbeiter in die Préfecture, da kann ich noch ein Schwätzchen halten.«
Der Marché aux fleurs fand täglich auf der Place Louis Lépine statt, genau gegenüber von der Polizeipräfektur auf der Île de la Cité. In einer Ansammlung von Pavillons aus dem letzten Jahrhundert wurden von früh bis spät die schönsten Blumen und Pflanzen der Stadt angeboten, von Händlern, die noch echte Unikate waren.
»Haben Sie jemanden gesehen? Kam Ihnen jemand entgegen?«
Bakir schüttelte den Kopf. »Da war niemand.«
»Kennen Sie die Brüder Pogorzelsky?«
Sofort fing der Mann wieder an zu zittern. »Meinen Sie, die haben etwas …«
»Sie kennen sie also?«
Statt einer Antwort krempelte der Mann seinen linken Ärmel hoch. »Sehen Sie, Commissaire.«
An seinem Oberarm waren mehrere Brandwunden, runde Löcher, die Haut war schwarz geworden von der Hitze. Sie war verbrannt und entstellt auf alle Zeit. Es war die empfindlichste Stelle des Arms, und Lacroix wusste sofort, was passiert war.
»Zigaretten?«
Bakir nickte. »Ich wollte ihnen kein Geld geben. Weil ich nicht konnte. Ich hatte nur acht Euro verdient, ich musste doch etwas essen.« Er kämpfte mit den Tränen.
»Und dann haben die Brüder Ihnen die Arme verbrannt?«
Der Mann nickte. »Es war nicht ein Mal, es war mehrfach. Immer wieder tun sie das.«
»Weil sie Schutzgeld eintreiben? Von den Obdachlosen?«
»Ja, von jedem hier. Sie sind sehr stark und haben viele Leute, die für sie arbeiten. Alles Russen. Aber es würde sich ohnehin niemand gegen sie wehren. Die haben Messer, und der eine hat sogar eine Pistole, hat mir jemand erzählt.«
»Waren Sie damit«, Lacroix zeigte auf die Wunden, »bei der Polizei?«
Bakir lachte bitter. »Ach, Commissaire, darüber lachen die flics doch nur. Die Jungs von der CRS schlagen uns, wann es ihnen passt. Meinen Sie, die nehmen von mir eine Anzeige auf? Gegen zwei Tschetschenen, die auch noch im Drogengeschäft sind? Wie sagen Sie in Frankreich: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Die flics würden mich auslachen. Gewalt unter Obdachlosen? Das kommt ihnen sehr gelegen. Denen wäre es doch nur recht, wenn ein Irrer uns alle umlegt, wie den armen Kerl da.«
Er zeigte Richtung Leiche, dort, weit unter ihnen, seine Stimme war immer lauter geworden.
Читать дальше