– Rauch eine Zigarette, befahl er ihm schließlich, – ich muss nachdenken. Und stell dich gegen den Wind, du weißt, ich hasse Zigarettenrauch.
Max ging ein paar Schritte weg. Samurai beobachtete den nächtlichen Verkehr auf dem Corso di Francia. Das hektische Auf und Ab, das sinnlose Treiben der Menschen.
Samurai war zweiundfünfzig Jahre alt, groß, hatte kurzgeschorene graue Haare. Er war immer mit nüchterner Eleganz gekleidet, Schwarz war seine Lieblingsfarbe. Unter den Kiton-Sakkos trug er gern Stretch-Shirts, unter denen das Spiel seiner Muskeln zu sehen war, die nicht im Fitnessstudio antrainiert waren. Er kokste nicht, er rauchte nicht, nur hin und wieder bei seltenen Gelegenheiten gönnte er sich einen kleinen Single-Malt-Whisky.
Samurai war kein Sklave, von nichts und niemandem.
Samurai ließ sich von nichts und niemandem beherrschen.
Er beherrschte alles. Er war der Boss.
Er war mit dem Mythos der nationalen faschistischen Revolution aufgewachsen, erste Erfahrungen hatte er gesammelt, als er die Roten im Gymnasium verprügelte, dann hatte er Raubüberfälle begangen, um seine Bande zu finanzieren, hatte vom Staatsstreich, dem Putsch, der Ausrottung der Juden und Kommunisten geträumt. Eines Tages starb sein bester Freund bei einer Schießerei mit der Polizei. Er selbst kam wie durch ein Wunder davon. Die Bullen wussten, wer er war. Ein Verräter hatte gesungen. Das erfuhr Samurai zufällig von einem Kameraden, der dasselbe Fitnessstudio wie die Spezialeinheiten der Polizei besuchte.
Er bereitete sich darauf vor, in Würde zu sterben.
Aber die Tage vergingen. Und niemand suchte ihn. Er überlegte, ob er sich stellen sollte. Das Warten machte ihn fertig. Schließlich tauchte jemand bei ihm auf. Ein Offizier des Geheimdienstes. Er schlug ihm ein Abkommen vor. Ein paar schmutzige Jobs im Tausch gegen Protektion. Samurai sagte zu ihm, er solle scheißen gehen.
Aber natürlich kamen sie wieder. Diesmal waren es viele. Sie waren bewaffnet und stinksauer. Sie hatten vor, ihn in einen Schusswechsel zu verwickeln und ihn kalt zu machen. Die beste Lösung für alle. Das unanständige Abkommen, das man ihm vorgeschlagen hatte, würde mit ihm zu Grabe getragen werden.
Samurai hob die Arme und ließ sich mit einem spöttischen Lächeln festnehmen.
Beim Prozess schwieg er eisern. Er bekam fünf Jahre. Im Gefängnis las er Pound, Céline und Der Untergang des Abendlandes von Oswald Spengler, er trainierte, um nicht vor Langeweile zu sterben. Man hielt ihn für einen Harten, einen unbelehrbaren politischen Häftling, und ließ ihn in Ruhe. Er grüßte alle und verfeindete sich mit niemandem. Weil er ein Musterhäftling war, sollte er sechs Monate früher entlassen werden.
Aber Politik hatte nichts mit guter Führung zu tun. Zumindest nicht mehr. Samurai war enttäuscht. Im Gefängnis war er zur Promiskuität gezwungen gewesen. Er hatte die Menschen kennengelernt, wie sie wirklich waren. Es gab keine Hoffnung. Unmöglich, die Schläfrigen und Bewusstlosen aufzuwecken.
Offenbar wollte die Gesellschaft, die er verändern wollte, gar nicht verändert werden. Offenbar hatte er den falschen Weg eingeschlagen.
Am Höhepunkt des Nachdenkens beschloss er, sich auf dieselbe Weise umzubringen wie der Schriftsteller Yukio Mishima.
Er wollte eine Woche vor seiner Entlassung zur Tat schreiten. So, dass der Sinn seiner Geste für alle zu erkennen war: Ekel vor der modernen Welt, Aufbegehren gegen die Mittelmäßigkeit der Massen, Verachtung für die Elenden und Schwachen. Lieber ein heroischer Tod als ein Sklavendasein.
Ein paar Tage vor dem festgelegten Termin verlegte man ihn plötzlich in eine andere Zelle. Sein neuer Zellengenosse stellte sich als Dandi vor. Auch er stand kurz vor der Entlassung, ein großer Junge mit spöttischem Lächeln und angenehmen Umgangsformen, er rühmte sich, die mächtigste und unbesiegbarste Bande Roms gegründet zu haben. Aber nicht im Alleingang, fügte er hinzu, sondern „mit ein paar Freunden, die du kennenlernen solltest“.
– Meine Zeit ist abgelaufen, Dandi.
– Tatsächlich. Entschuldige, aber wie alt bist du? Fünfundzwanzig? Und du redest wie mein Großvater?
– Das Alter ist unwichtig, es zählt nur das, was man in sich fühlt.
– Dann erklär mir, was fühlst du in dir?
Der Typ war sympathisch und schien vertrauenserweckend. Samurai beschloss, sich ihm anzuvertrauen. Die Einsamkeit brachte ihn allmählich um. Er erzählte ihm alles. Er brauchte nicht lange. Er zitierte gerade Julius Evolas Erhebung wider die moderne Welt, doch da unterbrach ihn Dandi.
– Schon gut, alles klar, du willst dich also umbringen, weil die Scheißwelt dich nicht verdient.
Samurai nickte: eine etwas vereinfachende, aber treffende Zusammenfassung.
– Weißt du, wie du mir vorkommst? Wie einer dieser Japaner aus einem Film … die mit dem krummen Schwert, die immer einem Feind den Schädel einschlagen wollen, wegen der Ehre … wie heißen sie doch gleich, komm, hilf mir …
– Samurai.
– Genau, sehr gut. Das bist du. Ein Scheißsamurai. Entschuldige, wenn ich dir das so sage, aber da du dich ja umbringen willst, kann ich ja offen reden … ich glaube, du hast nicht begriffen, wie der Hase läuft.
– Und wer erklärt es mir, du?
– Schau, mein Lieber, du kannst ja tun, was du willst. Aber sag mir eines: Glaubst du, es schert jemanden, wenn du dich umbringst? Entschuldige, aber du warst ihnen egal, als du Raubüberfälle gemacht hast, um die Politik zu finanzieren, und du glaubst, als Leiche machst du ihnen mehr Angst? Und jetzt mach das Licht aus, ich brauche acht Stunden Schlaf, sonst habe ich morgen Ringe unter den Augen, und Ringe unter den Augen finde ich wirklich unerträglich.
Samurai versuchte sich nicht allzu sehr davon beeindrucken zu lassen, aber die Worte des Vorstadtwichsers hatten ihm einen Floh ins Ohr gesetzt. Er ließ ein paar Tage verstreichen, dann kam er wieder darauf zu sprechen.
– Was also sollte ich deiner Meinung nach tun?
– Du kränkst dich, weil du glaubst, die Welt hat dich beschissen. Zahl es ihr doch mit gleicher Münze heim. Fick sie. Fick sie alle. Du wirst sehen, danach fühlst du dich besser. Wie nach einem schönen Fick, glaub mir, Samurai.
Wer weiß. Vielleicht hatte Dandi recht. Und vielleicht lag in seinen Worten mehr Wahrheit als in allen Büchern, die ihn begeistert hatten, seitdem er beschlossen hatte, den Weg zu verlassen, den ihm seine Eltern vorgegeben hatten: Studienabschluss, Übernahme der Rechtsanwaltskanzlei, die seinem Vater gehört hatte, und davor dem Großvater, dem Urgroßvater, und davor …
Vielleicht hatte Dandi auch nur gesagt, was er hören wollte.
Der Selbstmord wurde vertagt. Dandi und Samurai verließen gemeinsam das Gefängnis Regina Coeli.
Dandi stellte ihn seinen Freunden vor.
Samurai wurde in die Bande aufgenommen.
Das war mittlerweile lange her.
Dandi war tot.
Libanese war tot.
Viele andere waren tot, ein paar waren Kronzeugen geworden, ein paar saßen ihre Haftstrafe schweigend ab, träumten davon, von vorne anzufangen, unter Umständen mit einem einfachen Job.
Samurai war noch da. Der alte Kampfname war mittlerweile nur noch ein Überbleibsel verlorener Träume. Dandi hatte ihn ihm verliehen, und er hatte versucht, sich seiner würdig zu erweisen.
Aber die Macht war konkret, lebendig, real.
Samurai war die Nummer eins.
Obwohl er, wenn ihn jemand darauf ansprach, mit einem rätselhaften Lächeln zu antworten pflegte: nur primus inter pares.
Auf diese Weise kränkte er niemanden und die Geschäfte florierten. Das alles hatte er seiner Intuition zu verdanken. Es hatte mit den Jungs aus dem Bagatto begonnen, die Saat war aufgegangen. Das Netz umfasste mittlerweile die ganze Stadt. Die Bande waren unzerstörbar.
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