Umsonst.
Paja zog ihn an eine Wand des Ladens und band ihn mit einem Hanfstrick an einem frei liegenden Rohr fest. Erst jetzt, als er mit ausgebreiteten Armen auf dem Rücken lag wie der Gekreuzigte, zu dem die Römer beteten, begriff er.
Paja ging zur Stereoanlage und drehte lauter. Und während Autonomy von Plastic Wave den Laden in eine akustische Halluzination verwandelte, beugte sich Fieno über Abbas. Die Gesichter der beiden berührten sich beinahe, und der Alte spürte durch die Sturmhaube hindurch den Gestank nach Nikotin und Schweiß seines Peinigers.
– Du Scheißiraner willst also tausend Euro, ha? Warum, gehören sie etwa dir? Du bist bloß ein Kaffer. Und Kaffer werden nicht bezahlt. Klar?
Abbas Pupillen weiteten sich, während sich sein Hals anspannte, in dem verzweifelten Versuch zu nicken.
– Was? Hast du verstanden? Nein, du hast nicht verstanden. Du hast Geld verlangt, du Scheißmarokkaner. Du hast einen Brief geschickt. Du hast dich an die Scheißlinken, die Kommunisten gewandt … Aber du hast einen Fehler begangen. Sag, dass du einen Fehler begangen hast! Wie? Ich kann nichts hören. Sprich lauter, Trottel, ich höre nichts!
Wie lange brauchten die beiden?
Max hörte, dass die Musik immer lauter wurde, und konnte sich nicht länger zurückhalten. Zum Teufel mit Rocco Anacleti. Er stand auf und schlüpfte in den Laden.
Paja hielt eine Holztafel in der Linken. In der Rechten hielt er einen Holzhammer, den er aus einer Werkzeuglade gefischt hatte. Er forderte Fieno mit einer Geste auf, sich auf Abbas zu setzen, damit dessen Beine aufhörten, unwillkürlich zu zucken. Dann kauerte auch er sich neben den Alten.
– Also sag mir, Scheißiraner, wo sollen wir anfangen? Rechts oder links? Mit welcher Hand arbeitest du lieber an deinen Scheißbrettern? Mit welcher Hand treibst du Geld ein? Ich habe nicht verstanden. Du sagst, es ist egal? Egal? Dann fangen wir mit der Rechten an, damit die Linke zu was nütze ist.
Max stürzte sich auf Fieno.
– Lasst ihn in Ruhe. Das ist nur ein alter Mann!
Fieno fiel um, er war nicht auf den heftigen Angriff gefasst gewesen. Aber er stand sofort wieder auf. Er zog das Schießeisen heraus, das er im Rücken eingesteckt hatte und richtete es auf Max’ Stirn. Genau zwischen die Augen.
– Das ist eine 38er, du Trottel. Noch ein Wort und ich blas dir das Hirn weg.
Max ging mit erhobenen Armen zum Rollladen. Fieno wandte sich an Paja.
– Die Schwuchtel soll sich das Schauspiel bis zum Schluss ansehen.
Paja klemmte das Holzbrett zwischen die Handfläche Abbas’, der wimmerte wie ein Tier, und das Rohr, an das sein Handgelenk gebunden war. Er hob den Hammer über die Schulter und schlug damit ein – zwei- drei-, fünfmal auf die langen Finger des Handwerkers, auf die Knöchel, auf die Nägel. Bis seine Hand eine violette Masse geschwollenen Fleischs war.
Abbas wurde ohnmächtig.
Paja drehte sich zu Fieno um, der noch immer die Pistole auf die Stirn zwischen Max’ Augen hielt.
– Sind wir fertig?
– Ich habe gesagt, das ganze Schauspiel.
– Aber der Iraner ist hinüber. Er sieht nichts mehr.
– Er kommt wieder zu sich. Es kommt darauf an, was er beim Aufwachen sieht.
– Ist gut.
Paja ging mit dem blutbeschmierten Hammer auf die andere Seite des Ladens, zeichnete damit den Entwurf einer Intarsie auf eine Platte aus Ebenholz. Dann kramte er wieder in der Werkzeuglade des Iraners.
– Was hältst du davon?
Fieno nickte.
– Mach die Musik aus, er schreit sowieso nicht mehr.
Paja ließ die Zange mehrere Male auf- und zuschnappen, als wolle er ihren Biss prüfen. Er packte Abbas rechte Hand und führte sein Werk fort, mit dem Rücken zu Max und Fieno.
– Der geht mit seinen Händen nicht mal mehr pissen.
Sie nahmen die Sturmhauben ab und verließen schweißüberströmt den Laden. Fieno steckte die Waffe wieder im Rücken ein und richtete den Zeigefinger auf Max.
– Mit dir beschäftigen wir uns später.
Max hörte, wie der BMW langsam wegfuhr und ging zu Abbas’ Körper. Er lockerte die Hanfschlinge, mit der er an das Rohr gefesselt war, befreite die Handgelenke und legte die Arme des Alten neben seinen Körper.
Sogar für einen wie ihn war das zu viel.
Vor langer Zeit hatte er sich für die Straße entschieden. Beziehungsweise die Straße hatte sich für ihn entschieden.
Aber das war nicht die Straße. So konnte die Straße nicht sein.
Er hob den Kopf des Alten vom Boden. Und dann den Oberkörper, langsam, lehnte ihn an die Wand. Er entfernte den Knebel aus seinem Mund, damit er nicht an Schleim und Blut erstickte. Erst jetzt erkannte er die Schönheit und Würde seiner vom Schmerz verzerrten Gesichtszüge. Die dunkle, von tiefen Furchen durchzogene Haut, die eingefallenen, von einem mühevollen Leben gezeichneten Wangen, die von einem zarten weißen Bart überzogen waren.
Der Alte tat ihm leid. Er hätte es nie zugegeben, aber er tat auch sich selbst leid.
Schnell lief er hinaus zu seinem Motorrad. Gerade noch rechtzeitig, um einem weißen Matiz zu begegnen, der mit der Schnauze voran vor dem Laden stehen blieb, der Rollladen war nun wieder hochgezogen. Er fuhr langsamer und blieb in einer Entfernung von ungefähr hundert Metern stehen, um zu sehen, wer es war.
Ein Mädchen. Sie unterhielt sich am Handy. Lachte.
– Ja, Alice, ich besuche gerade meinen Vater. Ja, ja, er arbeitet auch nachts. Einverstanden, ich sage es ihm … sicher.
Max beobachtete sie und hielt den Atem an. Sie war außergewöhnlich schön. Üppiger Mund, Rehaugen und lange, glänzende schwarze Haare, die ihr über den Rücken fielen. Ein Traum.
– Ist gut, Alice, ich muss mich jetzt verabschieden. Ich gehe zu Papa.
Es war Zeit abzuhauen. Im ersten Gang beschleunigte er auf neunzig. Gerade noch rechtzeitig, um nicht zu sehen, wie sie den Laden betrat. Um sie nicht schreien zu hören, als sie sah, was man ihrem Vater angetan hatte. Um auf die Tuscolana zu gelangen und über jede rote Ampel bis zum Arco di Travertino zu fahren, wo er anhielt, nicht weit entfernt von zwei Transen, die rauchend auf einem Mäuerchen der IP-Tankstelle hockten.
– Ciao, mein Schöner!
– Nicht jetzt!
Er nahm den Helm ab und stellte das Motorrad auf die Gabel. Er kramte in der Tasche seiner Leinen-Belstaff-Jacke und holte das Handy heraus. Das, mit dem er nur eine einzige Person anrufen und von dieser angerufen werden konnte.
Samurai antwortete beim zweiten Klingeln, obwohl es fast ein Uhr nachts war.
– Was ist los?
– Ich habe ein Problem. Vielleicht hast du auch eines. Ich muss dich sehen.
– Gleich?
– Ja.
– Ist gut. Am Corso Francia. In zwanzig Minuten.
Max steckte das Handy wieder in die Tasche und ging auf eine Giulietta zu, die mit ausgemachten Scheinwerfern auf dem Platz vor der Tankstelle stand.
Er kannte das Auto. Es gehörte dem Carabinieri-Maresciallo Carmine Terenzi. Er näherte sich dem Fahrersitz, gerade noch rechtzeitig, um eine behaarte dickliche Hand mit Ehering zu sehen, die in den blondierten Haaren einer Nutte wühlte. Ihr Kopf bewegte sich auf und ab wie der eines Roboters, und das Schwein saß, den Kopf an die Nackenstütze gelehnt, und leckte sich mit der Zunge über die Lippen.
Max machte noch einen Zug von seiner Marlboro und dämpfte sie an der Tür der Giulietta aus. Terenzi grinste ihm durch das Fenster zu, während er kam.
Max drehte sich um.
Ein korrupter Bulle. Auch das war mittlerweile die Straße.
Samurai war wie immer äußerst pünktlich.
– Darf ich erfahren, was so wichtig ist, dass ich meine Meditation unterbrechen musste, Max?
– Die Anacleti, Meister.
Max erzählte die Geschichte, ohne Atem zu schöpfen. Samurai hörte ihm ungerührt zu. Der Junge war aufgewühlt. Samurai konnte den sauren Geruch der Wut spüren. Und einen süßlichen Hauch von Mitleid, der ihm nicht gefiel.
Читать дальше