»Er war dabei«, wiederholte sein Vater. »Einer der Helden von Clonbrony Wood, wie sie später genannt wurden. Hat ihm durchaus nicht geschadet, als er Jahre später fürs Parlament kandidiert hat. Ganz im Gegenteil. Erinnerst du dich an Mr. Delaney, Patrick – ein lebhafter, gutaussehender, glattrasierter Mann?«
Aber Patrick erinnerte sich nicht. Er hätte sich ohne den Weihnachtsmannbart auch nicht an F. X. O’Brien erinnert. Es hatte immer viel zu viel Gäste gegeben, als daß er sich an alle hätte erinnern können – Parlamentsmitglieder, Anwälte, LandLeague-Agenten, Richter, ein paar Mandanten. Sie waren verschwommene Gesichter über weißem Leinen.
In einer denkwürdigen Nacht vor vielen Jahren, lange nach dem Essen, als die Männer über Kaffee und Brandy saßen, war seine Mutter zu ihm herauf auf sein Zimmer gekommen, wo er halbwach im Bett lag. »Zieh Morgenrock und Pantoffeln an, Patrick. Mr. Parnell ist hier, und Vater möchte, daß du ihn begrüßt.« Keine schwarze Wolle, kein schwarzes Leinen, sondern grober Tweed, als ob er gerade von der Jagd zurückkäme, eine gestrickte Weste, kastanienbraune Haare und Bart. »Ein feiner Junge«, sagte er zu Patricks Mutter, zerstreut, mit einem Nicken. »Ein feiner kleiner Mann.« Er nickte wieder, und ein verlegenes Schweigen folgte.
»Ich habe ihn nur für einen Moment heruntergeholt«, erklärte Patricks Mutter. »Er schläft ja schon halb.«
»Und lassen Sie ihn schon Jura studieren, Prentiss?« fragte Parnell seinen Vater. »Ein junger Anwalt?«
»Alles zu seiner Zeit«, antwortete Patricks Vater. »Nur nichts überstürzen. Er gehört jetzt wohl wieder ins Bett, Ellen. Er wird sich an diese Nacht erinnern, in der er Mr. Parnell begegnet ist.«
In der Tür verrenkte Prentiss seinen Hals, um zurück zum Tisch blicken zu können. Parnell griff nach einem der Äpfel in der ovalen Silberschale.
»Er ist der ungekrönte König«, erklärte ihm seine Mutter oben auf dem Treppenabsatz, ihre Hand ruhte auf der geschnitzten Ananas aus schwarzem Walnußholz. »Es gibt ein Lied, in dem er so genannt wird. Die Mädchen in der Küche kennen es alle. Ein gutaussehender Mann, Patrick, er sieht fast so gut aus wie dein Vater.«
Katey kannte das Lied. Am nächsten Morgen sang sie ihm Bruchstücke daraus vor, als sie den Brotteig knetete, während das Mehl wie Puder ihre aufgekrempelten Ärmel bestäubte. »›For the uncrowned King of Ireland lies in Kilmainham Gaol.‹« Aber was konnte ein Gast am Tisch seines Vaters mit Gefängnissen und Kerkern zu tun haben? Patrick versuchte, sich Parnell in einer Gefängniszelle vorzustellen, ausgestreckt auf dem Stroh, die Zelle in tiefem Schatten liegend, Handfesseln und schwere Ketten an den feuchten Wänden befestigt, Ringe und Bolzen aus dunklem Eisen. »Was kannst du denn sonst von denen erwarten?« fragte Katey und knallte den gekneteten Teig auf den Tisch. »Robert Emmet war ein Gentleman, und Lord Edward Fitzgerald war ein Lord. Kerker und Tod warteten auf sie, und sie warten auch wieder auf Mr. Parnell.« Auf den sonntäglichen Spazierfahrten in den Phoenix Park kamen sie am Kilmainham-Gefängnis vorbei, das gegenüber der Parkeinfahrt lag, graue, massive Steine, hohe abwehrende Mauern, bedeckt von wütenden Glasscherben, bewaffnete Wachtposten an den düsteren Toren.
Aber damals war Prentiss ein Junge gewesen, nicht der junge Gelehrte aus Clongowes Woods, der im Licht der grünen Lampenglocke neben dem Schreibtisch seines Vaters im Arbeitszimmer stand.
»Nein«, sagte er. »Ich kann mich nicht an Mr. Delaney erinnern.«
»Schade«, erwiderte sein Vater trocken. »Er wird so bald wohl nicht mehr bei uns essen. Mr. Delaney hat sich dafür entschieden, Mr. Parnell in die Wüste zu folgen.«
Nun, in der Gegenwart, in der Prentiss und sein Vater sich im Arbeitszimmer unterhielten, hatte sich alles geändert. Parnell war nicht mehr der ungekrönte König. Er war auch im Souterrain nicht mehr Kateys Held, denn in Palmerston Park war die Politik monolithisch. »Da war ein Tropfen schlechtes Blut«, sagte sie rätselhaft. »Irgendwo war da ein Tropfen schlechtes Blut.« In der Dubliner Innenstadt, auf der breiten Sackville Street, hinter der riesigen Statue von Daniel O’Connell, dem Befreier, kam es zu Handgemengen zwischen den beiden Parteien, denen, die trotz allem Parnell unterstützten, und seinen Gegnern. Hüte wurden mit Holzstangen heruntergeschlagen, und die berittene Dubliner Polizei ritt hin und her, brüllte, beugte sich von den Pferden und schwang ihre langen, bleiverstärkten Knüppel, um Ordnung zu halten. Einmal hatten, zur Teezeit, Prentiss und seine Mutter so einem Handgemenge von den hohen Fenstern des Imperial Hotel, gegenüber den weißen Säulen des Hauptpostamtes, zugesehen. Sie und die anderen Gäste hatten entsetzt und fasziniert an den Fenstern gestanden, während die beiden Menschenmengen um Lord Nelson auf seiner hohen Säule wogten, auf die seine großen Siege an den vier Seiten des Sockels eingemeißelt waren, Trafalgar und die anderen. »Da haben Sie’s«, hatte eine der anderen Damen zu seiner Mutter gesagt, »das Land hat sich in das reine Tollhaus verwandelt.« Seine Mutter hatte nicht geantwortet, und als Prentiss sich zu ihr umgedreht hatte, hatte er gesehen, wie sie sich auf ihre vollen Lippen biß und daß ihr die Tränen in den Augen standen.
»Für diese Burschen war es viel einfacher«, sagte sein Vater. Er strich mit der flachen Hand über die Illustrated London News . Er blätterte die großen, breiten Seiten um.
»Da«, meinte er dann, als er eine weitere Seite umgeschlagen hatte, »das war die Schlacht hier bei uns, in Tallaght.« Das Bild der Schlacht bedeckte die ganze Seite. Unter einem Winterhimmel zielte und feuerte eine Reihe von Soldaten, oder vielleicht von Polizisten. Hinter ihnen, schemenhaft und vage, hinter dunklen Gebäuden und blattlosen Bäumen, war ihr Ziel eine undeutliche Masse. Und in der Ferne, tief über einem nahen Horizont, waren die Dublin Mountains zu sehen. »Das war der große Aufmarsch der Fenier«, sagte sein Vater. »In Tallaght.« Tallaght war nicht weit von ihnen entfernt, eine kurze Fahrt von Palmerston Park brachte sie in die sanft abfallenden Vorhügel, in das Dorf mit seinen Vorstadtvillen. »Die Irish Constabulary, so hießen sie damals«, erzählte sein Vater weiter. »Die Königin hat ihnen als Belohnung für ihre Dienste im Kampf gegen die Fenier das königliche Adjektiv verliehen. The Royal Irish Constabulary. Sie haben die Fenier niedergeschlagen, nicht die Armee.« In der nächsten Nummer der Illustrated News gab es noch einen ganzseitigen Stich.
»Gefangene Fenier werden in Dublin auf dem Weg zum Mountjoy-Gefängnis aus dem Lower Castle geführt.« Eine schöne Wiedergabe vom Dublin Castle, von dem alten, zinnenbewehrten Turm und der Kapelle. Der Hof war übersät von Kavallerie und Infanterie; dahinter befand sich eine Menge gaffender Zuschauer mit gereckten Hälsen. In der Mitte, fast nicht zu sehen, und zu beiden Seiten durch Doppelreihen von Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett bewacht, stand eine Menge grobgekleideter Männer, die aus Trotz oder Scham ihre Köpfe gesenkt hatten.
»In der Tat«, sagte sein Vater. »So ist das damals gewesen.« Geistesabwesend klappte er das Buch wieder zu. Auf dem lila Hintergrund regierte die siebenfach gekrönte goldene Königin über die Ereignisse der Welt. Die Vergangenheit war wieder in brüchige Seiten eingesperrt, um neben die gebundenen Jahrgänge von Punch zurückgestellt zu werden. Allerdings nicht endgültig. Denn an den Tisch im Palmerston Park war der weißbärtige O’Brien getreten, der zum Hängen, Strecken und Vierteilen verurteilt worden war, und Delaney, an den Prentiss sich nicht erinnern konnte, dem seines Vaters Worte jetzt jedoch einen düsteren Glanz verliehen hatten, ein Anhänger Parnells, dieses gefallenen Luzifers.
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