»Er ist verrückt geworden«, sagte sein Vater eines Morgens – und in jenem Sommer war mit diesem Pronomen immer Parnell gemeint. »Ich meine das im wahrsten Sinne des Wortes. In seiner Familie hat es immer Irrsinn gegeben. Die Partei zu zerreißen, das Land zu zerreißen. Und wer wird davon profitieren? Die Tories, natürlich. Die Großgrundbesitzer und die Londoner Bankiers. Wir haben ihn gemacht, bei Gott, und wenn es nötig ist, dann können wir ihm beweisen, daß wir ihn auch wieder zerstören können. Unsere eigene Schuld – zehn Jahre lang haben wir ihn wie eine Art ungekrönten König behandelt.«
»Nun ja«, sagte ein Freund eines Morgens und hielt dem Dienstmädchen seine leere Tasse hin. »Jetzt hat er ja eine ungekrönte Königin, die ihn trösten kann.« Aber Patricks Vater hatte, ohne zu lächeln, warnend zu dem lauschenden Jungen hinübergenickt.
Die Welt lag in diesem lila Steifleinen-Folianten vor ihm – ein großes Schiff lief in New York vom Stapel, das italienische Abgeordnetenhaus, die Seychellen, der Kristallpalast in London nach einem heftigen Schneesturm, schwere weite Schneedecken verbargen Glas und Eisen, Kaiser und Kaiserin von Frankreich in den Tuilerien, der Kaiser in Uniform und mit Spitzbart, die Kaiserin in enggeschnürter Krinoline mit einem Diadem im Haar. Jetzt, ein Vierteljahrhundert später, war Frankreich kein Kaiserreich mehr. Napoleon III. war tot, und seine Kaiserin wurde alt, irgendwo in England. Die Seiten drohten sich aufzulösen, als Prentiss eine nach der anderen umblätterte. Plötzlich lag das Vertraute vor ihm, bescheiden und verwirrend.
Eine ganze Seite war einem Dorf gewidmet, das wie jedes Dorf in Irland aussah, bedeutungslos in seiner Vertrautheit. Eine ungepflasterte Straße, daneben eine zerbröckelnde Mauer, hinter der Mauer eine viereckige Kaserne, neben der Kaserne zwanzig Mann in schwarzen Umhängen, Gewehre an die Schultern gelehnt, lässige Haltung. Ein Uniformierter, an dessen Seite ein Schwert baumelte, sprach mit Zivilisten mit Zylinderhüten. Auf der anderen Seite der Straße hatten sich auf einem Feld Bauern versammelt und starrten zur Kaserne herüber, die Frauen barfuß und in ihre Schals gehüllt, die Männer in verschlissenen Hosen, zerbeulten Hüten, einer von ihnen hielt eine Tonpfeife zwischen seinen zusammengekniffenen Lippen. In der Ferne zog sich die Straße an Hausfassaden, einem Kirchturm und, sehr weit weg, einer Zeile elender Hütten vorbei. Vor dem grauen Himmel hier und da ein Vogel – jeder dargestellt mit zwei raschen, doppelt gebogenen Strichen. Das war alles. Neben einer der Hütten die zusammengekauerte Figur einer Frau, undeutlich zu erkennen. »Die Polizeistation von Kilpeder«, stand unter dem Bild. »Schauplatz eines Angriffes der bewaffneten Fenier am 6. März. Die Schlacht, die hier ihren Anfang nahm, endete in derselben Nacht im nahegelegenen Clonbrony Wood.«
Er erinnerte sich plötzlich, daß er seinen Vater gefragt hatte: »Was war die Schlacht von Kilpeder?« Sein Vater hatte gedankenverloren aufgeblickt, sich seine Antwort gut überlegt und dann gesagt: »Kilpeder? In Irland? Es gibt ein Kilpeder in Cork, an der Straße nach Killarney. Einen Marktflecken. Unter den Tudors kann es da eine Schlacht gegeben haben. Vielleicht während der Desmond-Rebellion.«
»Nein«, widersprach Patrick. »Hier ist ein Bild von Kilpeder in den Illustrated News . Kilpeder und Clonbrony Wood.«
Sein Vater legte seine Feder beiseite und sah Prentiss an, zwei weiße Hände ruhten auf dem Schreibtisch. »Gott schütze uns, Junge. Clonbrony Wood. Zeig es mir mal!« Es war gar nicht so leicht, das schwere Buch hinüberzutragen. »Leg es hierhier, Patrick«, sagte sein Vater dann. »Kümmer dich nicht um die Papiere; denen passiert schon nichts.«
Prentiss beugte sich über das vor ihnen geöffnete Buch, und Vater und Sohn betrachteten den Stich. Durch einen perspektivischen Trick schienen sie zusammen auf der Straße zu stehen, wo auch der Künstler gestanden hatte, und zu Kaserne, Polizisten, Bauern hinüberzublicken. Daran erinnerte er sich nun am besten.
»Ich war im Trinity«, sagte sein Vater. »Ich war ein paar Jahre älter als du jetzt. Der Aufstand der Fenier – ich erinnere mich an jene Tage. Ballyknockane, Clonbrony Wood, Tallaght. Der Fenier-Schnee, Schießereien unten in Munster, in unseren eigenen Hügeln – hier, in der Nähe von Dublin. Und dann schien alles einfach zu ersterben. Aber das Jahr war noch nicht vorbei, als alles uns wieder ins Gedächtnis gerufen wurde. In Manchester wurde der Gefängniswagen überfallen und Colonel Kelly gerettet. Allen und Larkin und O’Brien wurden öffentlich aufgehängt, während ein betrunkener englischer Mob sie verspottete. Clonbrony Wood. Ich habe vielleicht genau diesen Stich damals gesehen. Als junger Mann im Trinity.«
Der junge Prentiss konnte sich seinen Vater nicht als Studenten vorstellen. Sein Vater war doch immer in Autorität gekleidet, in elegantes, ebenholzschwarzes Kammgarn, in weichen, dicken Tweed.
»Gott segne sie alle«, sagte sein Vater. »›They rose in dark and evil days.‹ Hast du dieses Lied je gehört?«
Prentiss schüttelte den Kopf.
»Bei Clonbrony Wood waren Jungen dabei, die nicht älter waren als ich«, erzählte sein Vater. »Und wem, um Himmels willen, haben sie gedient? Der Eitelkeit von James Stephens und der Habgier von Yankee-Abenteurern. Ihre erbärmliche Organisation, dürchsetzt mit Denunzianten und Scharlatanen. Diese armen Burschen, die gekämpft haben, mußten den Preis bezahlen. Weißt du, wo der größte Aufmarsch stattgefunden hat, Patrick? Hier, in den Bergen außerhalb Dublins. Tallaght, Glencullen, Stepaside. Tapfere Männer. Irregeleitet, aber tapfer.«
Prentiss konnte diese unzusammenhängende Rede nicht begreifen. Sein Vater hatte etwas von einem Universitätsdozenten, der den Beruf verfehlt hatte. Er hielt gerne Vorlesungen, rollte die Vergangenheit auf, am Mittagstisch oder bei langen sonntäglichen Spaziergängen in den Bergen, wo einst ein großer Aufmarsch stattgefunden hatte. Einmal, während einer Wanderung über Scalp, zwischen hohen, kahlen Felsbrocken und kargen Mooren, hatte sein Vater ihm Napoleons gesamte Karriere dargelegt, vom hageren, hungrigen Leutnant bis zum ruinierten fetten, weinerlichen Verbannten von St. Helena. Aber nun dozierte er nicht, und seine Rede war abgehackt und beschwert von Gefühlen, die Prentiss nicht verstehen konnte.
»Du kennst doch F. X. O’Brien, nicht wahr, Patrick?« fragte sein Vater. »Er ist oft hier gewesen. F. X. war einer von ihnen. Einer von den Feniern von Cork. Er war nicht in Clonbrony Wood, aber er war in Cork, hat dort gekämpft. Für ihn hatten sie sich ein besonderes Schicksal ausgedacht. Gehenkt, gestreckt und gevierteilt, so lautete das Urteil. Er war der letzte, über den das Britische Gesetz jemals dieses Urteil verhängt hat. Das Urteil, das am armen Emmet vollstreckt wurde, hier in unserem Dublin. Aber sie haben sich nicht getraut, es durchzuführen. Ist dir jemals Mr. O’Briens Hand aufgefallen? Daß er nur eine Hand benutzen kann? Die andere ist verkrüppelt, und er kann die Finger nicht voneinander lösen. Das haben sie ihm im Gefängnis angetan.«
Aber Prentiss war O’Briens Hand nie aufgefallen. Er erinnerte sich an einen Mann, der uralt wirkte, mit einem langen, dünnen Bart, der über seine Weste floß, onkelhaft und öde.
»Es gibt noch einen Mann«, sagte sein Vater plötzlich viel lebhafter, »einen Mann, der zweimal in diesem Haus gegessen hat. Nein, vielleicht dreimal. Deine Mutter müßte das noch wissen. Jedenfalls war er dort, genau dort, in Kilpeder und Clonbrony Wood. Wurde vor Gericht gestellt. Bob Delaney.« Sein Vater tippte die brüchige Seite mit dem Zeigefinger an, als ob er wütend darüber sei, daß der Künstler Delaney nicht mitgezeichnet hatte, vielleicht neben dem Offizier und den Herren mit den Zylinderhüten. Aber Delaney konnte bei dieser Szene nicht zugegen gewesen sein, die doch zweifellos das Nachspiel der Schlacht dafstellt, oder wohl eher des Handgemenges, wenn man vom Bild auf die Ereignisse schließen konnte, unverständlich und unrühmlich. Schlachten wurden auf weiten, windigen Ebenen ausgefochten, Kavallerie und Reihen von marschierender Infanterie rückten vor, gestochener Dampf umgab wie ein Kreis die Kanonen.
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