Im Folgenden sollen drei Grundhaltungen dargestellt werden, die aus professionsethischer Sicht als Grundmuster sozialarbeiterischen Handelns betrachtet werden können.
Haltung der Aufmerksamkeit
Es ist davon auszugehen, dass viele Klientinnen der Sozialen Arbeit neben ihrer prekären Lebenslage und Notsituation und/oder (Lebens-)Krise fundamentale Erfahrungen in verschiedenster Hinsicht mit Missachtung gemacht haben: Missachtung ihrer Grundbedürfnisse, Missachtung ihrer Bemühungen, das eigene Leben trotz widrigsten Umständen selbstverantwortlich zu meistern, verweigerte Anerkennung dazu zu gehören, Teil einer Gemeinschaft zu sein etc. Solche Erfahrungen verweigerter Teilhabe und Anerkennung führen bei vielen Menschen zu einer tief sitzenden Scham, die sich lähmend auf die eigene Motivation auswirken und bis zu einer generellen Perspektivlosigkeit führen kann (vgl. Honneth 1992:219). Wie es auch Thiersch (1995) ausdrückt, wollen Menschen in ihrem Sosein, in ihren Bemühungen den eigenen Alltag zu meistern, ernst genommen werden. Dazu ist eine Haltung der Aufmerksamkeit gefragt, »eine Aufmerksamkeit, die durch eine würdevolle Behandlung das Ringen des Adressaten um Anerkennung um seiner selbst willen Beachtung schenkt« (Lob-Hüdepohl 2007:139). Ethisch reflektiertes Handeln verlangt eine aufmerksame Grundhaltung, die einerseits die Bedürftigkeit und Verletzlichkeit der Klientin beachtet, sie aber auch in ihrer Andersartigkeit und ihrem Anderssein respektiert. Aufmerksam sein bedeutet auch kritisch hinzuschauen, wo die Klientin Mißachtungserfahrungen ausklammert, verstärkt oder mit verursacht.
Auch wenn man sagen könnte, dass die erste Sozialarbeiterin aus Mitleid handelte im Sinne einer mitfühlenden Wahrnehmung von Empathie oder von »compassion« (Haker 2001:441), ist der Begriff ›Mitleid‹ zu Recht oder Unrecht in Verruf geraten, weil zwischen dem Mitleidenden und Bemitleideten unmerklich eine hierarchisierende Distanz geschaffen werden kann, die den Hilfeprozess eher lähmt, und weil der Begriff eher eine Haltung der Defizitorientierung unterstützt. Lob-Hüdepohl schlägt als Alternative den Begriff der Achtsamkeit vor, der den Blick trotz z. T. sehr einschränkenden Ausstattungsproblemen auf die Ressourcen zu richten hilft. Achtsamkeit verhindert, dass Sozialpädagoginnen Klienten nicht auf das äußere Bild reduzieren (wie z. B. als Hilfebedürftige, als Abweichende), sondern ermöglicht ihnen, offen zu sein für das, was Klienten auch unerwartet einbringen, für ihre Versuche, für sie subjektiv sinnvolle Lösungen anzustreben, auch wenn diese noch mehr von dem wegführen, was Professionelle als sinnvoll erachten (vgl. 2007:142 f.).
Haltung der Anwaltlichkeit
Sozialarbeiterinnen stoßen immer wieder auf Situationen, in denen Klienten noch nicht, vorübergehend, gar nicht oder nicht mehr in der Lage sind, ihr Leben selbständig zu meistern. Dies erfordert zwar entsprechende Unterstützungsleistungen, führt aber schnell zu einem Machtgefälle, weil Professionelle in Lebenszusammenhänge eingreifen, manchmal gegen den Willen ihrer Klienten bestimmen, stellvertretend für diese Menschen Verantwortung übernehmen (müssen), oft auch zu deren Schutz. Brumlik (2004) hat diese Thematik aufgegriffen und dafür den Begriff ›advokatorische Ethik‹ begründet. Darunter versteht er »ein System von Aufforderungen in Bezug auf die Interessen von Menschen, die nicht dazu in der Lage sind, diesen selbst nachzugehen, sowie jene Handlungen, zu denen uns diese Unfähigkeit anderer verpflichtet« (2004:161). Da advokatorisches Handeln immer auch die Selbstbestimmung von Menschen zum Ziel hat, ist es an ein Mindestmaß an Zustimmung der fremdbestimmten Person geknüpft.
4.1.6 Berufsethische Richtlinien
Der Deutsche Berufsverband für Sozial Arbeit e. V. (DBSH) wie auch der Schweizerische Berufsverband ›AvenirSocial‹ haben unterschiedliche berufsethische Richtlinien entwickelt, die sich auf diejenigen des ISWF und auf die internationalen Menschenrechte berufen (
Kap. 4.2.3). Diese umfassen die ethischen und fachlichen Grundsätze und Pflichten von Sozialarbeiterinnen und sind für die Mitglieder des Berufsverbandes verbindlich. Da sie sich in der Ausgestaltung etwas unterscheiden, sollen sie in Kurzform gesondert dargestellt werden.
Berufskodex Soziale Arbeit Schweiz
Der aktuellste Berufskodex Soziale Arbeit Schweiz wurde per Juni 2010 in Kraft gesetzt und wird als Argumentarium für die Praxis der Professionellen bezeichnet. Darin werden ethische Richtlinien für das moralische berufliche Handeln in der Sozialen Arbeit dargelegt. Der Kodex soll u. a. als Instrument zur ethischen Begründung der Arbeit mit Klienten sowie als Orientierungshilfe bei der Entwicklung einer professionsethisch begründeten Berufshaltung dienen (vgl. AvenirSocial 2010:1 f.). Unter den Grundsätzen der Sozialen Arbeit werden nach einer sehr kurzen Darlegung von Leitidee und Menschenbild zehn Ziele und Verpflichtungen der Sozialen Arbeit auf allgemeiner Ebene umrissen, bevor Spannungsfelder und Dilemmata in der Praxis Sozialer Arbeit aufgeführt werden. Der Berufskodex macht deutlich, dass der Umgang mit Interessenskollisionen und Widersprüchen sowie das Zurechtfinden in Loyalitätskonflikten ein Teil der Sozialen Arbeit sind und von Professionellen eine kontinuierliche Auseinandersetzung erfordern. Im Berufskodex werden unter den Grundwerten Menschenwürde und Menschenrechte wichtige Grundsätze (wie z. B. Gleichbehandlung, Partizipation) sowie Verpflichtungen, die zur sozialen Gerechtigkeit beitragen sollen, aufgeführt. Professionelles Handeln hat sich gemäß Berufskodex auf diese Grundwerte abzustützen wie auch auf den dargelegten Handlungsprinzipien einer ethisch begründeten Praxis. Diese sind in Form von Handlungsmaximen bezüglich der eigenen Person, der Arbeit mit Klientinnen und Klienten, den Organisationen des Sozialwesens, der Gesellschaft, der eigenen Profession und der interprofessionellen Kooperation formuliert.
Berufsethische Richtlinien des Deutschen Berufsverbandes für Soziale Arbeit e. V.
In den durch die Bundesmitgliederversammlung 1997 in Kraft gesetzten ethischen Prinzipien sind zunächst allgemeine Grundsätze beruflichen Handelns aufgeführt. Diese basieren auf dem gesellschaftlichen Auftrag Sozialer Arbeit, unter Wahrung universeller Werte und der Orientierung an der Würde des einzelnen Menschen, der Solidarität und strukturellen Gerechtigkeit. Neben der Unterstützung und Förderung von Menschen in sozialen Problemlagen haben den Grundsätzen gemäß Professionelle soziale Probleme zu entdecken, sie in ihrem Bedingungszusammenhang öffentlich zu machen und einer Lösung zuzuführen (vgl. DBSH 1997:1). Die berufsethischen Prinzipien beschreiben Verhaltensgrundsätze gegenüber Klientinnen der Sozialen Arbeit, die unter Wahrung oben genannter Werthaltungen auf der Achtung des einzelnen Menschen und seiner Lebenssituation aufbauen und u. a. auch für Datenschutz garantieren. In diesem Sinne sollen jeweils Ziele, Unterstützungsleistungen und Formen der Zusammenarbeit in einem Kontrakt zwischen Sozialarbeiterinnen und Klienten gemeinsam festgelegt werden. In den Prinzipien sind auch Verhaltensweisen gegenüber Berufskolleginnen, Angehörigen anderer Berufe, Arbeitgeber und Organisationen wie auch in der Öffentlichkeit beschrieben, die sich auf die eingangs formulierten Grundsätze berufliches Handelns abstützen (vgl. DBSH 1997:2 ff.).
4.1.7 Ethische Entscheidungsfindung
Zentral für die Ethik in der Sozialen Arbeit ist die ethische Entscheidungsfindung, wofür die oben ausgeführten professionsethischen Grundlagen und normativen Vorgaben einen wichtigen Bezugsrahmen darstellen. In der Berufspraxis der Sozialen Arbeit stellen sich immer wieder Fragen, die einer Werteabwägung bedürfen: Soll für die Eltern mit Erziehungsproblemen eine sozialpädagogische Familienbegleitung verpflichtend vorgeschlagen werden? Wie umgehen mit einer stark übergewichtigen Klientin, die immer mehr zunimmt und ihre Gesundheit damit ernsthaft gefährdet? So stellen sich in der Praxis moralische Fragen, die in strukturierter Weise bearbeitet werden müssen. Eine solche Struktur der Entscheidungsfindung hilft dabei, nichts Wesentliches zu übersehen und sichert ein sorgfältiges Vorgehen beim Sammeln und Abwägen von Fakten und Werten (vgl. Bleisch/Huppenbauer 2014:15; Hug 2014:225). Wichtig ist es dabei deskriptive Sein-Aussagen von normativen Sollensaussagen stets zu unterscheiden (vgl. Keller 2016:29).
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