Wie noch auszuführen sein wird (
Kap. 4.2), nehmen die gesetzlichen Bestimmungen über Sozialhilfe die Leitidee auf, dass Soziale Arbeit der Menschenwürde verpflichtet ist, indem als Aufgabe der Sozialhilfe gesehen wird Menschen so zu unterstützen, dass ihnen ein menschenwürdiges Leben gesichert ist (
Kap. 4.2.1). Menschenwürde, so ist zu folgern, ist somit nicht an noch zu bestimmende (Charakter-)Eigenschaften oder Kompetenzen gebunden, sondern dem Menschen inhärent (vgl. Fischer et al. 2007:348). Nach Spaemann (2001:109) stellt der Begriff Menschenwürde ein letztes unhintergehbares Element des Selbstseins dar und besitzt somit normativen Charakter. Menschenwürde stellt in Bezug auf das Handeln eine Grenze dar, die nicht überschritten werden darf. Die 1948 von den Vereinten Nationen entworfene Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hat zum Ziel, die »allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnende Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte« Geltung zu verschaffen (vgl. Heidelmeyer 1997:225). Da der Begriff ›Menschenwürde‹ alltagssprachlich etliche Unschärfen aufweist und sehr unterschiedliche Vorstellungen gelingenden Lebens damit verbunden werden (wie z. B. Glück, Wohlergehen, Ganz- und Unversehrtsein, Gesundheit etc.), soll er im Folgenden hergeleitet und präzisiert werden.
Kant verweist in seiner Kritik der praktischen Vernunft (2008) darauf, dass der Mensch von sich aus frei ist, weil er sich von der Natur freigesetzt hat und zwischen Alternativen frei entscheiden kann. Damit ist zunächst die Willkürfreiheit gemeint, die alle Möglichkeiten einer Wahl offen lässt. Freiheit im eigentlichen Sinn erreicht der Mensch, wenn er sich von der praktischen Vernunft leiten lässt. Der Grundsatz, als kategorischer Imperativ formuliert, fordert von jedem Menschen sein Handeln nach der Regel auszurichten, an die sich alle Menschen halten sollen: »Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest« (Kant 2008:61). Hinter dem kategorischen Imperativ steht die Vorstellung, dass Menschen als Vernunftwesen zur Autonomie (vor griech. autos = selbst und griech. nomos = Gesetz) bestimmt sind. Nach Hoerster (2002:7) bedeutet Menschenwürde eine Grenze, die verbietet, sich den Mitmenschen zum Werkzeug zur Erreichung der eigenen Ziele zu machen. Dieses Instrumentalisierungsverbot bildet nach Schlittmaier (2004:17) somit den Kern der Menschenwürde. Im Kontext der Bioethik ist diese Anschauung heftig umstritten, was für die Soziale Arbeit nicht ohne Folgen ist. Die traditionelle Position geht davon aus, dass Menschenwürde allen Menschen unabhängig von ihren Fähigkeiten zukommt, was bedeutet, dass auch Menschen mit schwersten Beeinträchtigungen Menschenwürde zugeschrieben wird. Die Gegenposition geht davon aus, dass Menschenwürde an bestimmte Fähigkeiten oder Eigenschaften gebunden ist (z. B. an die Fähigkeit zur Selbstachtung) und deshalb nicht a priori allen Menschen zukommt. In dieser Konzeption wird die Würde nicht am Menschen als solchen festgemacht, sondern an Wesen, die die geforderten Eigenschaften aufweisen. Wenn Menschen z. B. erniedrigt werden und dies nicht erkennen können, weil ihnen die entsprechenden Fähigkeiten fehlen, würde nach dieser Auffassung Menschen mit Demenz oder Behinderungen keine Würde zukommen, was sofort die Frage auswirft, ob sie ein Anrecht auf ein menschenwürdiges Leben haben.
Die eingangs formulierte allgemeine Erklärung der Menschenrechte kann auch als Versuch gesehen werden, den inhaltlichen Kerngehalt der Menschenwürde exakter zu fassen. Sie umfasst nach Lob-Hüdepohl ausschließlich die Bedingungen, die es Menschen ermöglichen, ihr Leben eigenständig zu planen und zu führen (vgl. 2007:122). Die Menschenrechte bewegen sich dabei zwischen ethischen Grundforderungen und Rechtsansprüchen in Form von persönlichen Freiheitsrechten (Abwehrrechte wie z. B. Gedankenfreiheit, Schutz der Privatsphäre), politischen Rechten (Mitwirkungsrechte wie z. B. Wahlrecht, Recht freier Meinungsäußerung), kulturellen oder sozialen Rechten (Anspruchsrechte wie z. B. Recht auf Bildung oder Sicherheit). Diese Rechte stehen in einem engen Bezug zur Grundfigur von Freiheit, Gleichheit und Teilhabe und verweisen darauf, dass diese Größen unteilbar sind. Persönliche Freiheit wird dann realisiert, wenn sie im öffentlichen Raum gemeinsam mit andern Menschen gelebt und erfahren werden kann. Dies setzt die Gleichheit aller Menschen voraus und macht deutlich, dass Menschenwürde unantastbar ist und nicht nach Situation und Person auszuhandeln ist. Soll Freiheit in Gleichheit erfahren werden können, müssen kulturelle, materielle und soziale Voraussetzungen erfüllt sein, die deren Vollzug sowie auch die Teilhabe ermöglichen. Nach Lob-Hüdepohl hat eine ethische Reflexion normativer Grundlagen zu berücksichtigen, dass Kultur- und Sozialrechte Grundvoraussetzung bilden für das Zustandekommen einer demokratischen Gesellschaft (vgl. ebd.:124). Zudem verweisen die Menschenrechte moralisch auf den Begriff der Solidarität. Wenn mit Verweis auf die Achtung der Menschenwürde Freiheit, Teilhabe und Gleichheit eingefordert werden, ist dieser Anspruch allen Menschen zuzubilligen. Daraus ist zu folgern, dass die in einem Sozialstaat initiierte Soziale Arbeit die Wahrung der Menschenrechte und die Achtung der Menschenwürde zu gewährleisten hat und entsprechend gesellschaftlich zu organisieren, auszustatten und zu realisieren ist.
Es konnte aufgezeigt werden, dass Autonomie als Fundamentalnorm in der Sozialen Arbeit zu betrachten ist, geht es doch darum, Menschen zu unterstützen, ihr Leben eigenständig und selbstverantwortlich in die Hand zu nehmen und zu gestalten. Nun ist in einem weiteren Schritt zu fragen, wie professionsethische Grundhaltungen auf dieser Grundlage herausgebildet werden und das professionelle Handeln leiten. In der Erklärung der International Federation of Social Workers (IFSW) taucht neben dem Grundsatz der Menschenrechte derjenige der Sozialen Gerechtigkeit auf. Lob-Hüdepohl versteht darunter das Gewährleisten von gleichen Rechten und Einfordern gleicher Pflichten, den Ausgleich von Leistungen, die Mindestausstattung von Grundgütern sowie den Abbau struktureller Ursachen von ungleichen gesellschaftlichen Beteiligungschancen. Davon lassen sich drei Grunddimensionen ableiten, a) Gesetzesgerechtigkeit (gleiche Rechte für alle Menschen in einem Staat), b) Tausch- oder Leistungsgerechtigkeit (Gleichheit von Leistung und Gegenleistung) und c) Verteilungsgerechtigkeit (jeder Mensch erhält aufgrund seiner Menschenwürde die notwendigen Ressourcen zur Bestreitung seiner Existenz). Diese Grunddimensionen sind Ausdruck des oben erwähnten Gebots der Gleichheit. Verteilungsgerechtigkeit zielt demnach darauf ab, dass elementare Grundbedürfnisse befriedigt werden, wie auch alle Menschen gleiche Zugangsmöglichkeiten zu materiellen und immateriellen Ressourcen einer Gesellschaft haben. Allerdings führt die Leistungsgerechtigkeit auch zu Ungleichheiten bezüglich Ausstattung in einer Gesellschaft und kann nicht immer durch Instrumente der Verteilungsgerechtigkeit aufgefangen werden. Rawls setzt sich in seiner Theorie der Gerechtigkeit in Anlehnung an die Menschenrechte für das Schaffen von bestimmten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ein, die zu einem kontinuierlichen und dynamischen Ausgleich durch angemessene Verteilung der erzielten Gewinne führen, ohne zu privilegieren oder zu nivellieren (vgl. 2006:335).
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