Der Täter stellte fest, dass – wenn die Rollen vertauscht gewesen wären und er der Polizist gewesen wäre – er die Person daran gehindert hätte, in das Auto zu gelangen und das Gewehr zu bekommen, selbst wenn es bedeutet hätte, auf ihn zu schießen.
In diesem Fall benutzte der Polizist aus irgendeinem Grund seinen Dienstrevolver nicht, um den Täter davon abzuhalten, in das Auto hineinzugelangen, das Gewehr zu nehmen, auf ihn zu schießen und ihn zu töten (FBI, 1992).
Man kann aus diesem Beispiel ersehen, dass es die Passivität bzw. das zögerliche Verhalten des Polizeibeamten war, was die Situation eskalieren ließ. Man kann deshalb Grundregeln für das Verhalten in gefährlichen Situationen und gegenüber gefährlichen Personen formulieren:
• Man muss die Führung in der Situation behalten.
• Man muss problemlösend handeln.
Wer diese Grundregeln nicht beachtet, zeigt, dass er nicht „Herr der Lage“ ist. Dies wird von gewaltbereiten Personen als Schwäche und oft auch als Aufforderung zum Angriff gedeutet.
Das passive und irrationale Verhalten der Polizisten wird verursacht oder begünstigt durch falsche oder unzureichende kognitive Schemata – durch eine falsche Sicht der Dinge.
3.2 Mit bestimmten Gefährdungen wird nicht gerechnet
Dies sind z. B.
• Messerangriffe (was von manchen Kriminellen in Gefängnissen systematisch trainiert wird!);
• ungewöhnliche und in harmlosen Gegenständen versteckte Waffen (z. B. spitzer Gegenstand in Lippenstifthülle, Schusswaffe in Taschenlampe, Messer in Kamm, Schlüssel für Handschellen in Telefon oder in einer Wunde an der Hand !);
• mehrere versteckte Waffen;
• spitze Gegenstände als Waffen (auch ein Korkenzieher oder ein spitzer Bleistift können als Waffen benutzt werden).
3.3 Die unerwartete Entwicklung von Gefahr
Probleme treten auch deshalb auf, weil die angegriffenen Polizisten ein „Status quo“-Denken im Sinne Dörners et al. (1983) hatten, d. h. dass sie überhaupt nicht die Möglichkeit berücksichtigten, dass sich eine gefährliche Situation entwickeln könnte. Auch hatten sie offensichtlich kein zutreffendes Bild davon, wie sich eine Gefahrensituation überhaupt entwickelt. Z. B. wurde der Griff unter die Bettdecke oder den Autositz nicht als Griff nach einer verborgenen Waffe gedeutet.
Manche Ereignisse sind für den Polizisten deshalb überraschend, weil der Angriff nicht dem üblichen Handlungsmuster entspricht.
Potenzielle Gefahr durch Mitfahrer
Bei der Annährung an eine Gruppe von Personen haben offensichtlich manche Polizisten eine Art „Tunnelblick“. Sie konzentrieren sich auf eine Person dieser Gruppe und vernachlässigen oder ignorieren andere – was den Polizisten in Gefahr bringen kann (FBI, 1992). Siehe auch das Beispiel in Kap. 9.2 auf S. 120 oben.
Unerwartetes Verhalten des Täters
Als ein Polizist bei einem Bankraub auftauchte, schoss der Täter auf ihn. Der Polizist verließ die Bank und suchte hinter seinem Auto Schutz. Der Bankräuber verfolgte ihn und feuerte weiter auf ihn. Der Polizist schoss und verletzte den Angreifer zweimal. Er selbst blieb unverletzt.
Später drückte der Polizist seinen Schock über sein Erlebnis aus. Er hatte erwartet, dass der Täter fliehen würde, nicht, dass er ihn verfolgen würde. Sein früheres Training hatte ihn überhaupt nicht auf die Möglichkeit vorbereitet, nach Erscheinen am Ort des Geschehens verfolgt und angegriffen zu werden.
Als zwei Polizisten einen Autofahrer anhielten, der ein Stopp-Schild überfahren hatte, näherte sich ein Mann aus einer Gasse und schoss auf die Polizisten. Diese hatten die Gegenwart des Mannes erst wahrgenommen, als er auf sie schoss. Der Mann war über ein kürzlich gefälltes Gerichtsurteil verärgert, stand zum Zeitpunkt des Angriffs unter Drogen und war ausgegangen, um einen Polizisten anzugreifen. Er war schon früher kriminell auffällig geworden (Pinizzotto et al., 1998).
3.4 Die unterschiedliche Wahrnehmung der Situation
Zwei Drittel der angegriffenen Polizisten meinten, dass es keine Anzeichen für den drohenden Angriff gegeben habe. Erst nachdem sie schwer verwundet worden waren, erkannten einige von ihnen, dass sie sich in einem Kampf um Leben und Tod befanden und nicht nur in einer kleineren körperlichen Streitigkeit (Pinizzotto et al., 1998).
Interessant ist hier die unterschiedliche Sichtweise von Polizist und Täter. In den meisten Situationen sahen die später verletzten Polizisten die Lage so: Ich habe es mit einem Kriminellen zu tun, der sich weigert, ins Gefängnis zu gehen. Andererseits sahen die Täter sich im Kampf um ihr Leben und ihre Freiheit.
Die unterschiedlichen Perspektiven von Polizisten und ihre Übereinstimmung oder Abweichung von denen des Kontrollierten zeigen folgende Abbildungen:
Situation I (s. S. 72) entspricht den meisten polizeilichen Interaktionen – mit gewaltfreien Bürgern, während Situation II (S. 73) ein großes Konfliktpotenzial beinhaltet.
Viele Angriffe auf Polizisten wären vorhersehbar oder vermeidbar gewesen, wenn diese einen Perspektivwechselvorgenommen hätten und eine Situation auch aus einer anderen Sicht betrachtet oder zumindest die Möglichkeit in Erwägung gezogen hätten, dass der Interaktionspartner die Sache aus einer völlig anderen Sicht sehen könnte .
Die Studie von Pinizzotto et al. (1997) und auch die FBI-Studie von 1992 zeigen, dass z. B. Verkehrskontrollen, die häufig als Routinetätigkeit und Wiederholungstätigkeit angesehen werden, potenziell schwere Gefahren für Polizisten darstellen. Es wird nicht in die Überlegung eingeschlossen, dass jemand, der wegen einer geringfügigen Verkehrsübertretung angehalten wird, eine Bedrohung ihres Lebens darstellen würde, und zwar beim Versuch, den Polizisten zu entfliehen.
Das Versäumnis, grundsätzlich auch die Möglichkeit einzukalkulieren, dass eine Situation gefährlich werden könnte, hatte verhängnisvolle Konsequenzen. Dies zeigt die Studie von Pinizzotto et al. (1997, 1998), die gerade bei extrem erfolgsmotivierten Polizisten ein hohes Gefährdungspotenzial fand. Sie handelten gewissermaßen nach dem Motto „Erfolg geht vor Sicherheit“.
Das Bedürfnis dieser Polizisten, „Statistiken zu produzieren“, gleichgültig, ob innerlich oder äußerlich motiviert, veranlasste sie manchmal, Vereinfachungen hinsichtlich ihrer Sicherheit vorzunehmen, wie z. B. die Unterlassung, den Einsatzleiter von ihren Handlungen zu unterrichten. Auch beachteten die Polizisten nicht die örtlichen Bedingungen, wenn sie Verkehrskontrollen durchführten. An heißen Tagen waren die Polizisten auch nicht geneigt, ihre Schutzwesten zu tragen.
3.5 Unkenntnis der Psychologie gewaltbereiter Personen
Die Polizisten, die Opfer eines Angriffs wurden, hatten ein vorgefertigtes Bild von der Persönlichkeit eines Täters, von dem sie annahmen, dass er sie vermutlich angreifen würde. Doch die Analyse der Täter durch Pinizzotto et al. (1998) zeigte, dass es kein einheitliches Profil von einem Menschen gibt, der einen Polizisten angreift, zu töten versucht oder tatsächlich tötet. Die vorgefertigten Bilder der Polizisten von dem Täterprofil waren also von geringem Wert, um ihre persönliche Sicherheit zu gewährleisten.
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