Besonders in die Pflicht genommen werden die Besitzenden und die Mächtigen. Gerlach (2006, 199) trifft einen wichtigen Punkt, wenn er sagt, dass die biblische Gerechtigkeit nicht auf den Aspekt des barmherzigen Ethos reduziert werden dürfe. Die im Gesetz geforderte Rechtstreue ist umfassender Natur. Das Gesetz nimmt die Besitzenden in die Pflicht, wenn gesagt wird, dass die Brache zugunsten der Armen eingehalten werden soll (Ex 23,10–11). Und es nimmt die Mächtigen in die Pflicht, wenn es heißt, dass Arme, Witwen, Waisen und Fremde nicht ausgebeutet und das Recht der sozial Schwachen im Rechtsstreit nicht gebeugt werden dürfen (Ex 23,6–9). Das Konzept der Gerechtigkeit ist im Alten Testament in dem Sinn umfassend, als es den Einzelnen in die Pflicht nimmt gerecht zu handeln, und die Mächtigen und Reichen verpflichtet gesellschaftliche Strukturen zu schaffen, die Gerechtigkeit und Ausgleich ermöglichen. Alttestamentliche Gerechtigkeit ist kein bloßes Almosengeben für Bedürftige. Die vom Gesetz verlangte und von den Propheten mit Nachdruck eingeforderte Gerechtigkeit schnitt tief in die gesellschaftlichen Strukturen Israels.
Die politische Macht lag seit Davids Regierung hauptsächlich beim König. Er war der politische Entscheidungsträger und von ihm wurde erwartet, dass er im Namen Jahwes für Recht und Gerechtigkeit sorgte. David war der Prototyp des gerechten Königs. Von ihm heißt es, dass er für Recht und Gerechtigkeit im ganzen Volk sorgte (2Sam 8,15). Salomo verfeinerte die Gesetze Israels und sorgte für Rechtssicherheit auch für die Geringen (1Kö 3,16–28). Im Königpsalm 72 portraitiert Salomo den idealen Herrscher:
Verleih, dein Richteramt, o Gott, dem König, dem Königssohn dein gerechtes Walten! Er regiere dein Volk in Gerechtigkeit und deine Armen durch rechtes Urteil. Dann tragen die Berge Frieden für das Volk und die Höhen Gerechtigkeit. Er wird Recht verschaffen den Gebeugten im Volk, Hilfe bringen den Kindern der Armen, er wird die Unterdrücker zermalmen (…) Denn er rettet den Gebeugten, der um Hilfe schreit, den Armen und den, der keinen Helfer hat. Er erbarmt sich des Gebeugten und Schwachen, er rettet das Leben der Armen. Von Unterdrückung und Gewalttat befreit er sie, ihr Blut ist in seinen Augen kostbar. (Ps 72,1–14)
Der König, der gerecht regierte, erwies sich als wahrer Sohn Jahwes, des Königs über Israel, und wurde mit Recht gepriesen. Entsprechend wurden ungerechte Könige, Priester und andere einflussreiche Personen des öffentlichen Lebens von den Propheten angeklagt:
Weh der trotzigen, der schmutzigen, der gewalttätigen Stadt. Sie will nicht hören und nimmt sich keine Warnung zu Herzen. Sie verlässt sich nicht auf den Herrn und sucht nicht die Nähe ihres Gottes. Ihre Fürsten sind brüllende Löwen. Ihre Richter sind wie Wölfe in der Steppe, die bis zum Morgen keinen Knochen mehr übrig lassen. Ihre Propheten sind freche Betrüger. Ihre Priester entweihen das Heilige und tun Gewalt dem Gesetz an. Aber der Herr tritt für das Recht ein in ihrer Mitte, er tut kein Unrecht. (Zef 3,1–5)
Zefanja klagte die gesamte gesellschaftliche Elite seiner Zeit an. Jerusalem war zur gewalttätigen Stadt geworden. Ihre Fürsten missbrauchten ihr Amt und waren zu brüllenden Löwen geworden. Die Richter waren bestechlich und sorgten dafür, dass Gerechtigkeit käuflich war. Die Propheten redeten betrügerische Worte, die vom Klerus und den Mächtigen gerne gehört wurden. Die Priester, die den Gottesdienst aufrechterhalten und das Gesetz lehren sollten, entweihten das Heiligtum und missachteten das Gesetz. Propheten wie Zefanja ließen keinen Zweifel: Wenn es um Gerechtigkeit ging, waren alle Besitzenden, allen voran die politisch Mächtigen und die gesellschaftlich Einflussreichen, in die Pflicht genommen.
Ob es der König war, der das Verfügungsrecht über das Volk besaß, ob es Richter und Priester mit ihrer beträchtlichen Entscheidungsgewalt waren, ob es ein Sippenoberhaupt war, das in Familienangelegenheiten entschied, ob es der Besitzer eines Weinberges war oder ein schlichter Bauer, der zufällig den entlaufenen Esel seines Feindes fand – sie alle wurden von Jahwe auf gerechtes und barmherziges Handeln verpflichtet.
Israels Gerechtigkeits-Paradigma
Die Evangelikalen sind bisher zögerlich mit dem biblischen Gerechtigkeitsbegriff umgegangen. Gerechtigkeit wurde weitgehend mit Rechtfertigung gleichgesetzt. Der alttestamentliche Gerechtigkeitsbegriff wurde kaum in sozial verantwortliches Handeln einbezogen. Erhard Berneburg (1997, 272–274) widmet in seiner Dissertation Das Verhältnis von Verkündigung und sozialer Aktion in der evangelikalen Missionstheorie einen kurzen Abschnitt dem Zusammenhang zwischen evangelikaler Sozialethik und dem biblischen Verständnis von Gerechtigkeit. Er zeigt sich besorgt darüber, dass der alttestamentliche Gerechtigkeitsbegriff in der neueren evangelikalen Missionstheorie vermehrt zur Definierung der Sozialethik verwendet wird. Nach seinem Verständnis eignet sich der alttestamentliche Gerechtigkeitsbegriff nicht dazu. Gerechtigkeit sei zu allererst nicht ein Tun des Menschen, sondern ein Handeln Gottes und müsse soteriologisch verstanden werden (a.a.O., 272), denn die menschliche Verantwortung komme im Neuen Testament nicht unter dem Begriff der Gerechtigkeit zur Sprache (a.a.O., 273). Mit Blick auf die Entwicklung einer evangelikalen Sozialethik warnt er: „Gegenüber einer vorschnellen Identifizierung von aus der Heiligen Schrift erhobener Gottesgerechtigkeit und menschlichen Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit ist auf die strenge Unterscheidung zwischen beiden zu verweisen“ (a.a.O., 275). Berneburg möchte verhindern, dass es in der evangelikalen Missionstheologie zu einer humanistischen Verflachung des Evangeliums kommt, welche den soteriologischen Aspekt der Gottesgerechtigkeit schlussendlich negiert. Er warnt in diesem Zusammenhang vor einer sozialethischen Verengung des Gerechtigkeitsbegriffs (a.a.O., 275) und möchte so sicherstellen, dass Gerechtigkeit die persönliche Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben an Christus bleibt.
Berneburgs Unbehagen spiegelt die traditionelle evangelikale Haltung zur sozialen Gerechtigkeit wieder. Man möchte nicht, dass die Bemühungen um soziale Gerechtigkeit die überaus deutliche Lehre von der Notwendigkeit der geschenkten Gottesgerechtigkeit im Sinne der Rechtfertigung durch den Glauben verdrängen. Das ist mit Nachdruck zu bejahen. Nur sollte dieses Unbehagen nicht dazu führen, dass man sich zu zögerlich mit dem Thema Gerechtigkeit befasst oder es gar negiert.
Wir brauchen eine solide biblische Theologie der Gerechtigkeit, welche alle Aspekte von Gerechtigkeit berücksichtigt und in das richtige Verhältnis zueinander rückt. Um dies zu ermöglichen, müssen wir die Frage stellen: Ist es zulässig, die alttestamentliche Sozialethik paradigmatisch zu verstehen? Mit anderen Worten: Dürfen die Vorstellungen von gerechtem Handeln und von sozial gerechten Strukturen, wie sie im Alten Testament vorkommen, modellhaft auf heute übertragen werden? Wird diese Frage verneint, ist ausgesagt, Israel stelle einen Sonderfall in der Heilsgeschichte dar, der uns in der Frage nach der sozialen Verantwortung nicht weiterhelfen könne. Man wird dann Zuflucht zum Neuen Testament suchen und feststellen, dass dort der Gerechtigkeitsbegriff kaum in Bezug zu sozial verantwortlichem Handeln gesetzt wird. Und daraus wird man folgern, es sei nicht die Aufgabe der Kirche, sich für soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Mit dieser verkürzten Argumentation aber geht man des enormen Reichtums des Alten Testamentes in sozialethischer Hinsicht verlustig.
In meinem Buch Kirche ist Mission habe ich eine Rechtfertigung vorgetragen, die es erlaubt, das Gerechtigkeits-Paradigma des Alten Testamentes auf heute zu übertragen. 6Wenn wir eine paradigmatische Übertragung vornehmen, versuchen wir nicht, jedes einzelne Gesetz möglichst buchstabengetreu in unseren Kontext zu überführen. Wir fragen vielmehr nach der Intention, welche hinter einem bestimmten Gesetz liegt. Wir versuchen dadurch den die Zeiten und Kulturen überschreitenden Gehalt des Gesetzes zu identifizieren und diesen im Sinne der ursprünglichen Absicht auf heute zu übertragen. Das soll im Folgenden geschehen.
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