Zuerst untersuchen wir das Konzept der Gerechtigkeit im Alten Testament, mit besonderer Berücksichtigung des mosaischen Gesetzes und der Botschaft der jüdischen Propheten.
Dann untersuchen wir das Konzept der Liebe im Neuen Testament und fragen insbesondere nach dem Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Liebe.
Schließlich fragen wir nach den Motiven und der Bedeutung des utopischen Gerechtigkeitsideals.
Altes Testament – Gerechtigkeit als solidarische Mitmenschlichkeit
Gerechtigkeit ist der zentrale ethische Begriff des Alten Testamentes. Die im Deutschen mit den Begriffen Recht und Gerechtigkeit wiedergegebenen hebräischen Begriffe kommen im Alten Testament über 500 Mal vor. Allein schon die Häufigkeit, mit der die Frage nach der Gerechtigkeit aufgenommen wird, zeugt davon, dass es sich um ein wichtiges, die Epochen durchschneidendes Thema handelt.
Ein sozialer Verhältnisbegriff
Gerechtigkeit im Alten Testament ist ein sozialer Verhältnisbegriff, der so viel wie Gemeinschaftstreue bedeutet. Diese Gemeinschaftstreue schließt sämtliche Beziehungsebenen ein. So kann im Alten Testament von Menschen, die sich innerhalb ihres Familienverbandes angemessen verhalten, als von gerechten Menschen die Rede sein. Ebenso kann davon die Rede sein, dass ein Mensch gerecht ist, weil er sein Vertrauen auf das Wort Jahwes setzt (Gen 15,6). Und von Gott selbst wird gesagt, dass er gerecht ist, weil er den Schuldigen nicht frei spricht (Ex 34,7) und weil er treu zu seinen Versprechen steht (Deut 32,4).
In der griechischen Polis (Stadtstaat) war Gerechtigkeit ein staatstragender Begriff. Es herrsche Gerechtigkeit – so Platon – wenn jeder das ihm Zukommende tue. Das heißt, „gerecht war es, das Bestehen ganz unterschiedlicher gesellschaftlicher Vollmachten und Ränge zu akzeptieren und selbst das dem eigenen Rang Angemessene zu übernehmen“ (Seebass 1993, 502). Ähnlich ist auch im Alten Testament Gerechtigkeit ein sozialer Verhältnisbegriff, der mit „gemeinschaftsgemäßes Handeln“ oder „Gemeinschaftstreue“ wiedergegeben werden kann (Gerlach 2006, 175). 5„Der paradigmatische Text für dieses Verständnis ist die Geschichte von Juda und Tamar (Genesis 38). Tamars Mann Er, ein Sohn von Juda, war gestorben, ohne einen Nachkommen gezeugt zu haben. Ers Bruder Onan war nicht gewillt, die familiäre Pflicht zu erfüllen und seinem verstorbenen Bruder mit Tamar einen Nachkommen zu zeugen. Da ließ Gott Onan sterben. Aus Angst weigerte sich Juda, Tamar seinen jüngsten Sohn Schela zu geben. Tamar verkleidete sich als Kultdirne, bot sich Juda an und empfing von ihm ein Kind. Als man sie aufgrund der unehelichen Schwangerschaft mit dem Tode bestrafen wollte, konnte sie ein Pfand zeigen, das sie von Juda erhalten hatte. Juda musste bekennen: ‚Sie war gerechter als ich‘ (Gen 38,26). Judas Bruch der familiären Gemeinschaftstreue wog schwerer als Tamars Ehebruch“ (a.a.O., 175). Diese Geschichte macht deutlich, dass der Treue gegenüber der Sippe einen hohen Stellenwert beigemessen wurde – so hoch, dass eine Person (Tamar), die gegen ein ethisches Grundgesetz verstieß (nicht die Ehe zu brechen), gerechter sein konnte als jemand, der die Verpflichtungen gegenüber der Sippe (Judas Weigerung Tamar zu verheiraten) übergangen hatte. Gerechtigkeit und Gemeinschaftstreue kommen sich inhaltlich also sehr nahe.
Im Alten Testament – und hier häufig in den Psalmen – ist auch von Gottes Gerechtigkeit die Rede. Es geht um Gottes Heilshandeln, der sich durch seine zahlreichen Versprechen in einem freien Akt seinem Volk verpflichtet hat. Diese Versprechen löst Gott ein und erweist damit seine Treue. Diese Bedeutungsnuance von Gerechtigkeit tritt vor allem dann zutage, wenn es um Gottes Gerechtigkeitserweisungen im Sinne von Rettungstaten geht. Im Debora-Lied werden die Gerechtigkeitserweisungen Jahwes gepriesen (Ri 5,11), der durch die Richterin Debora und ihren Gefährten Barak Israel aus Not befreite. Auch die Befreiung aus Ägypten wird als rettende Tat, als Gerechtigkeitserweisung Jahwes, bezeichnet (Mi 6,5), denn mit der Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten löste Gott seine Versprechen an Abraham ein und erwies dadurch seine Treue zu seinem Volk. In Ps 31,2 betet David: „Herr, ich suche Zuflucht bei dir. Lass mich doch niemals scheitern; rette mich in deiner Gerechtigkeit!“ Indem Jahwe den König rettet, erfüllt er sein Versprechen, dass sein Haus Bestand haben wird (2Sam 7,12), und erweist so seine göttliche Treue.
Ein rechtlicher Grundbegriff
Gerechtigkeit ist im Alten Testament nicht nur ein sozialer Verhältnisbegriff, sondern auch ein rechtlicher Grundbegriff, der sich von Gottes Gerechtigkeit ableitet. Das zeigt sich besonders gut im sogenannten Bundesbuch (Ex 21,1–23,33), der ersten Gesetzessammlung Israels. Mose stieg auf den Sinai und Gott sagte zu ihm: „Wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein. Mir gehört die ganze Erde, ihr aber sollt mir als ein Reich von Priestern und als ein heiliges Volk gehören“ (Ex 19,5–6). Dann legte Gott Mose die Zehn Gebote vor, die eine Zusammenfassung des Willens Jahwes an sein Volk waren (Ex 20,1–17). Im Anschluss daran folgen im Bundesbuch einzelne Bestimmungen, welche das geistliche und soziale Leben Israels prägen sollten. Die Sammlung wird mit den Worten eingeleitet: „Das sind die Rechtsvorschriften, die du ihnen vorlegen sollst“ (Ex 21,1). Sie bestanden darin, dass die Israeliten bestimmte Dinge tun und andere lassen sollten. Damit sollten sie sich Jahwe angleichen, der ihnen den Bund gewährte, denn er ist gerecht und spricht den Schuldigen nicht frei: „Du sollst das Recht des Armen in seinem Rechtsstreit nicht beugen. Von einem unlauteren Verfahren sollst du dich fern halten. Wer unschuldig und im Recht ist, den bringt nicht um sein Leben; denn ich spreche den Schuldigen nicht frei. Du sollst dich nicht bestechen lassen; denn Bestechung macht Sehende blind und verkehrt die Sache derer, die im Recht sind“ (Ex 23,6–8).
Gerechtigkeit bestand darin, dass die Israeliten Jahwe glaubten und seine Gebote befolgten. Sie bildeten eine absolute Norm, die im Gott Israels selbst begründet war. Als ein heiliges Volk des Eigentums sollte Israel dem Heiligen Israels gleichen und seine Gerechtigkeit widerspiegeln – eine Gerechtigkeit, die sich in einer gerechten gesellschaftlichen Verfassung zeigen sollte, wie Ex 23,6–8 prägnant zum Ausdruck bringt. Entsprechend häufig, rund 30 Mal, wird im Alten Testament darum das Begriffspaar „Recht und Gerechtigkeit“ verwendet.
Jahwe ist die Quelle der Gerechtigkeit. Immer wieder offenbarte sich der Gott Israels als barmherziger, gnädiger und gerechter Gott. Er offenbarte sich auf dem Sinai Mose, ging an ihm vorüber und rief: „Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an Huld und Treue: Er bewahrt Tausenden Huld, nimmt Schuld, Frevel und Sünde weg, lässt aber (den Sünder) nicht ungestraft; er verfolgt die Schuld der Väter an den Söhnen und Enkeln, an der dritten und vierten Generation“ (Ex 34,6–7). Gottes Gerechtigkeit bestand darin, dass er seinem Volk Vergebung schenkte und so sein Versprechen an Abraham, Isaak und Jakob einlöste, Israel zu seinem Volk zu machen (Lev 26,39–45). Gerechtigkeit und Gnade wurden so zuweilen zu austauschbaren Begriffen.
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