In Deutschland ist das Micah Network unter der Bezeichnung Micha Initiative bekannt und wird von der Deutschen Evangelischen Allianz getragen. In der Schweiz heißt dieselbe Initiative StopArmut und wird von der Arbeitsgemeinschaft Nord-Süd der Schweizerischen Evangelischen Allianz verantwortet. Die beiden Initiativen wollen einen substanziellen Beitrag zur Durchsetzung der Millenniumsziele der Vereinten Nationen leisten. Ziel ist es, durch verschiedene Maßnahmen die weltweite Armut bis zum Jahr 2015 zu halbieren. Dies will StopArmut durch die Motivation von Christen, die Beeinflussung von Entscheidungsträgern, die Auszeichnung von Modellen zur Armutsbekämpfung und Gebet erreichen ( www.stoparmut2015.ch). Die deutsche Micha Initiative weist auf ihrer Homepage darauf hin, dass seit der Gründung der Weltweiten Evangelischen Allianz Evangelisation und gesellschaftliche Verantwortung eng zusammengehören und dass auch die Lausanner Verpflichtung diesen Punkt herausstreicht. Das macht zweierlei deutlich: Zunächst, dass sich das Bahn brechende neue Verständnis von der sozialen Verantwortung der Kirche auf historische Vorbilder beruft, wie es sie in der Frühzeit des Evangelikalismus gegeben hat. Man möchte die fundamentalistische Verabschiedung aus der Welt durch die Rückkehr zur ursprünglichen Weltzugewandtheit überwinden. Und dann auch, dass der Lausanner Kongress 1974 tatsächlich eine Wende im Weltbezug der Evangelikalen markiert. Die dort gemachten Anregungen sind in den 1980er-Jahren in der Zwei-Drittel-Welt mit Begeisterung aufgenommen worden und scheinen mit Verzögerung auch im Westen einen nachhaltigen Effekt zu erzielen.
Schließlich sind die missionalen Ansätze im Gemeindebau ein weiteres und deutliches Anzeichen für einen Paradigmenwechsel. Ein Beispiel dafür ist die Theologie des gesellschaftsrelevanten Gemeindebaus des deutschen Missionswissenschafters und Gemeindegründers Johannes Reimer. In seinem Buch Die Welt umarmen nimmt er eine gründliche theologische Analyse des gesellschaftsrelevanten Gemeindebaus vor. Reimer (2009, 24) ist überzeugt, „dass erfolgreicher Gemeindeaufbau unmittelbar mit der Frage zusammenhängt, ob eine Gemeinde zu einer verständlichen und in der Gesellschaft angenommenen Form und Struktur gefunden hat.“ Es reiche nicht aus, bestehende Gemeinden zu erneuern indem etwa die Form des Gottesdienstes verändert werde. Ebenso wenig reiche es aus, Gemeinde zu restaurieren indem bestimmte Themen, die in der Vergangenheit vernachlässigt wurden, neu entdeckt würden. Es gehe vielmehr um eine neu gedachte und neu konzipierte Gemeinde. Reimer spricht von einem „kontextuell-theologischen Konzept, das beides ernst nimmt, die Botschaft des Neuen Testamentes und auch den Kontext, in dem diese Botschaft Fleisch werden soll“ (a.a.O., 22)
Missionaler Gemeindebau, also vom Sendungsauftrag her gedachter Gemeindebau, verlangt nach einer theologischen Grundlegung und nach einer Form, die für den jeweiligen Kontext relevant ist. Genau dies nimmt Reimer in seinem Werk vor. Er untersucht die biblischen Images von Gemeinde – die Gemeinde als Versammlung, Bau, Volk, Leib – und folgert: „Biblische Bilder von der Gemeinde machen deutlich, dass die Gemeinde von ihrem Wesen her missionarisch ist, oder sie ist keine Gemeinde. Das missionarische Wesen der Gemeinde schließt die erklärte Absicht zur Transformation der Welt, in der die Gemeinde existiert, ein … Mission der Gemeinde muss sowohl die Proklamation des Wortes Gottes als auch die soziale Aktion beinhalten. Erst da, wo die Gemeinde ihre transformative Rolle in der Gesellschaft wahrnimmt, wird sie ihrer missionarischen Aufgabe gerecht“ (a.a.O., 92).
Reimer begründet den missionalen Gemeindebau im Weiteren trinitarisch und missiologisch. Besonders interessant für unser Thema sind Reimers Ausführungen über die Gemeinde in der Welt (a.a.O., 182–193): Gott wirkt in der Welt. Er ist es, der die Geschichte lenkt. Die Gemeinde ist eingeladen, sich auf den Spuren des Schöpfers zu bewegen und an seinem Wirken in der Welt teilzuhaben. Die Gemeinde ist eine Gemeinschaft von Menschen in der Welt. Der Mensch hat von Gott ein Kulturmandat erhalten. Es ist nicht allein die Gemeinde, durch die Gott sein Reich erbaut. Alle Menschen tragen dazu bei. Das ist eine Einladung zum Dialog und zur Zusammenarbeit mit allen Menschen. „Nicht gegen die Menschen, sondern mit ihnen wird Gemeinde gebaut. Nicht gegen die Kultur, sondern in der Kultur“ (a.a.O., 186). Die Welt ist nicht nur Gottes gute Schöpfung, sondern zugleich eine gefallene Welt. Das Böse in der Welt ist eine Aufforderung zum Kampf. Die Gemeinde muss die Welt zu verstehen suchen. Dazu gehört, sie als vom Bösen korrumpierte Welt zu sehen, vor allem aber den Kontext zu kennen, in welchem Gemeinde konkret gebaut werden soll.
Gerechtigkeit ist von zentraler Bedeutung für das menschliche Zusammenleben. Der Kirchenvater Augustin hat treffend gesagt, dass Gerechtigkeit das ist, was eine Gesellschaft von einer Räuberbande unterscheidet. Die Frage nach der Gerechtigkeit ist gerade in der Epoche der Globalisierung von entscheidender Wichtigkeit.
In der Epoche der Globalisierung rückt die Welt zusammen; ob aus ihr eine Weltgesellschaft oder eine Weltwillkürherrschaft hervorgeht, entscheidet sich an der Gerechtigkeit … Die zukünftige Gestalt der Welt hängt davon ab, ob auf lange Sicht die Stärkung des Rechts oder das Recht des Stärkeren die Oberhand behält. (Sachs & Santarius 2005, 19)
Es ist keine neue, aber wichtige Erkenntnis: In einer gelingenden Gesellschaft herrscht Gerechtigkeit. „Denn eine ungerechte Gesellschaft entspricht weder den Strebungen des Menschen, noch kann sie auf Dauer Bestand haben“ (a.a.O., 19).
Am 3. Dezember 1984 ereignete sich in einer Pestizid-Fabrik des amerikanischen Chemiekonzerns Union Carbide (heute Teil der Dow Chemical) im indischen Bhopal die bisher schlimmste Chemiekatastrophe der Geschichte. Innerhalb weniger Stunden wurden große Mengen hochgiftiger Gase freigesetzt. In den ersten Stunden gab es mehrere tausend Tote. Bis heute sind an den Folgen des Unfalls 20.000 Menschen gestorben. Über 100.000 Menschen sind chronisch krank, und noch heute sterben Menschen an den Folgen des Unfalls. Gemäß offiziellen Zahlen wurden über 500.000 Männer, Frauen und Kinder in irgendeiner Weise Opfer des Unfalls.
Auf der Internetseite von Union Carbide kann man nachlesen, der Konzern habe sich eifrig bemüht, den Opfern Hilfe zu leisten. 4Das ist bestenfalls eine Übertreibung. 1989 wurde in einem außergerichtlichen Vergleich Entschädigungszahlungen in Höhe von 470 Millionen Dollar für die Opfer festgesetzt. Es mutet zynisch an, dass der amerikanische Ölkonzern Exxon nach dem Tankerunglück der Exxon Valdez in Alaska in erster Instanz zu einer Milliardenbusse verbrummt wurde, obschon dort keine Menschen direkt zu Schaden gekommen waren. Union Carbide hat bis heute das verseuchte Firmengelände nicht reinigen lassen. Heute spielen indische Kinder auf dem verseuchten Boden Fußball. Finden Sie das gerecht? Würden Sie ihr Kind dort spielen lassen?
Es sind solche und ähnliche Fragen sozialer Gerechtigkeit, welche die Menschen bewegen. Es geht um Fragen der Gerechtigkeit zwischen den Völkern, die Frage gerechter Arbeitsbedingungen und Entlohnung, die Fragen sozialer Diskriminierung, die Fragen der Chancengleichheit, der Teilhabe am Leben und nicht zuletzt um Ressourcengerechtigkeit.
Gerechtigkeit ist weder nur von zentraler Bedeutung für das menschliche Zusammenleben noch ausschließlich ein Schlüsselthema des 21. Jahrhunderts; Gerechtigkeit ist auch ein zentraler biblischer Begriff. Von welcher Art von Gerechtigkeit sprechen wir, wenn wir sagen, dass sie zentral für die Zukunft der Menschheit ist? Wer sagt uns, was gerecht ist und was nicht? Was ist unter dem häufig verwendeten Begriff „soziale Gerechtigkeit“ genau zu verstehen? Es ist die Aufgabe dieses Kapitels, auf diese Fragen eine biblische Antwort zu geben. Wir werden dies durch folgendes Vorgehen zu erreichen suchen:
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