Ich dankte meinem Landsmann für seine Freundlichkeit und fügte dann hinzu:
„Es ist richtig, Herr Kapitän, ich habe in Akureyri gewohnt. Ich war drei Jahre dort. Von 1867 bis 1870. Ich bin aber nicht dort geboren. Meine Geburtsstätte ist Mödruvellir. Dort habe ich die ersten neun Jahre meines Lebens zugebracht.“
„Ich weiss es“, sagte der Kapitän, „aber Mödruvellir liegt so nah bei Akureyri, dass wir uns doch als engere Landsleute betrachten können.“
„Gewiss können wir das“, stimmte ich dem freundlichen Herrn bei.
Jetzt musste ich auch Viktor vorstellen; denn, indem er ihn anschaute, fragte der Kapitän:
„Dieser Junge ist wohl Ihr Reisebegleiter? Woher ist er?“
„Er ist ein Deutscher, Herr Kapitän, aber kein Norddeutscher, sondern ein echter Süddeutscher. Er ist aus dem sonnigen Süden, und zwar aus dem wunderschönen und fruchtbaren Lande der Schwaben, wo auch ein guter Wein wächst, wo die Menschen viel lebhafter und heiterer sind als in unsern nördlichen Gegenden.“
„Es freut mich“, sagte der Kapitän, „dass Sie einen so liebenswürdigen Reisebegleiter bei sich haben, und ich hoffe, dass, obwohl er aus dem sonnigen Süden ist, der hohe Norden ihm doch nicht missfallen wird.“
Hiernach stellte uns der Kapitän den Herren vor, welche uns am nächsten sassen.
Bei dieser Vorstellung sollte mir eine ausserordentlich angenehme Überraschung zuteil werden.
Es sass nämlich mir gegenüber ein netter und sehr sympathisch aussehender isländischer Herr.
Gerade bevor er mir vorgestellt werden sollte, redete er mich selber an:
„Herr Jón Svensson“, sagte er, „wir haben uns schon einmal gesehen. Können Sie sich vielleicht noch erinnern, wo und wann das war?“
Ich schaute den stattlichen Herrn aufmerksam an, konnte mich aber trotz des besten Willens nicht erinnern, ihn jemals gesehen zu haben.
Er bemerkte meine Verlegenheit und sagte lächelnd:
„Ich kann sehr gut begreifen, dass Sie sich nicht mehr an unsere Begegnung erinnern. Es ist nämlich recht lange her, dass wir uns sahen; auch war ich damals nicht ganz so gross wie jetzt“, fügte er lächelnd hinzu.
„Wie lange ist es her?“ fragte ich.
„O, es mögen ungefähr siebenunddreissig Jahre sein“, erwiderte er.
„Also zur Zeit meiner letzten Islandreise im Jahre 1894“, bemerkte ich.
„Ja, gerade damals“, sagte er. Und nun erzählte er den ganzen Vorgang.
„Mein Name ist Rafnar. Mein Vater war Pfarrer auf dem Pfarrhof Hrafnagil, in dem Eyjafjördur, südlich von Akureyri. Als ich noch ein kleiner Junge war, kaum neun Jahre alt, ritt ich eines Tages, im Sommer 1894, mit meinem Vater von Hrafnagil nach Akureyri. Auf dem Wege begegneten wir Ihnen. Sie ritten südwärts mit einem dänischen Jungen, dem kleinen Frederik, Sohn des Professors Troels Lund aus Kopenhagen. Ihr Reiseführer war Ihr alter Freund Gunnar Einarsson. Als wir uns begegneten, machten wir alle einen kurzen Halt und sprachen einige Worte miteinander.“
„Ah, jetzt kann ich mich sehr gut erinnern“, unterbrach ich Herrn Rafnar. „Ich sehe Sie noch klar und genau vor mir, wie Sie damals zu Pferd sassen, neben ihrem Herrn Vater. Sie hatten lange, weisse Strümpfe an, die über den Beinkleidern bis über die Kniee hinaufgezogen waren. Dann erinnere ich mich noch ganz gut, dass ausser Ihnen ein zweiter Junge dabei war. Er war ungefähr so gross wie Sie und ganz gleich angezogen ...“
„Sie müssen doch ein ausgezeichnetes Gedächtnis haben“, versetzte Herr Rafnar, „denn alles, was Sie sagen, passt genau. Der andere Junge war mein Bruder, der jetzt Oberarzt im Sanatorium von Kristnes im Eyjafjördur ist.“
Die übrigen Tischgenossen wunderten sich über diese eigentümliche Begegnung und das beiderseitige Wiedererkennen auf dem isländischen Dampfer „Brúarfoss“.
Das Tischgespräch wurde immer gemütlicher und heiterer. Herr Rafnar musste mir noch einiges aus seinem Leben weitererzählen.
Er hatte seine Ausbildung in Island und Dänemark erhalten und war jetzt Direktor einer bedeutenden isländischen Handelsgesellschaft — mit Wohnsitz in Kopenhagen.
Endlich verabschiedete ich mich von den freundlichen Herren der Tischgesellschaft, um mir nun auch die Gelegenheit zu verschaffen, meinen eigenen Gedanken und Eindrücken nachzugehen und ein wenig allein mit mir selber zu sein. Viktor hatte sich schon längst wieder in die Gesellschaft der Kinder begeben.
16. Herrliche Meerfahrt. Ein Gespräch über die Fortschritte Islands.
Nach einer Weile bekam ich Lust, die Einrichtungen des Schiffes mir noch einmal anzusehen. Ich machte daher einen Rundgang durch die unteren Räume.
Der Speisesaal, die kleinen Salons und die Gesellschaftsräume, die Gänge, die Kabinen, der Maschinenraum ... alles war vollkommen modern eingerichtet. Ja es war alles so modern, dass darüber eigentlich gar nichts Besonderes zu berichten ist. Alles bequem, zweckmässig und elegant — genau so, wie es heute auf allen Dampfern dieser Art üblich ist. Von einer speziell isländischen Eigenart war nirgendwo auch nur das Geringste zu sehen.
Ich war wenig darüber erstaunt. Denn ich wusste, dass die alte Sagainsel, das Wunderland am Polarkreis, gerade jetzt daran war, ganz modern zu werden.
Ich verliess die unteren Räume und begab mich nach oben auf Deck.
Es war ein herrliches Wetter, alles in hellem, lindem, warmem Sonnenschein gebadet.
Ich stellte mich an die Reling, das Schiffsgeländer, und liess wieder meine Blicke über die unermessliche Meeresfläche schweifen.
Das Land war jetzt vollständig verschwunden. Es war nichts anderes mehr zu sehen als nur das Meer und der azurblaue Himmel, der sich darüber wölbte. Das und das Schiff sollte nun für eine geraume Zeit unsere Welt sein.
Wie klein fühlt sich der Mensch inmitten so grosser Umgebung!
Auf der unendlichen Wasserfläche waren da und dort dunkle sowie auch helle Punkte sichtbar. Es waren Schiffe, die wie wir auf der Fahrt waren, irgendwohin nach fernen Städten und Landen.
Die dunklen Punkte waren Dampfer. Über ihnen schwebten in leichten Linien dunkle Rauchwolken, wie sie auch aus den beiden blau-weissen Schornsteinen der „Brúarfoss“ unaufhörlich hoch in die Luft hinaufqualmten.
Die hellen Punkte aber sahen viel schöner aus — ähnlich wie Möwen, die hart über den Meeresfluten dahinschweben. Das waren Segler, grosse und kleine. Diese nahmen meine Aufmerksamkeit noch viel mehr gefangen als die andern, denn sie erinnerten mich lebhaft an die herrlichen Fahrten, die ich gerade mit solchen Segelschiffen in meiner Jugend gemacht hatte, und zwar in eben diesen Gewässern und auf dieser Strecke, auf der wir uns jetzt befanden.
Auf einmal, während ich in Betrachtung vertieft so dastand, legte sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter.
Ich wandte mich rasch um.
Hinter mir stand ein junger Herr, mit dem ich zwar noch nicht gesprochen, den ich aber doch unten im Speisesaal während des Mittagsmahles an einem der etwas entfernteren Tische gesehen hatte.
Er schaute mich mit einem vertraulichen Lächeln an und sagte:
„Verzeihen Sie, wenn ich Sie störe. Ich wollte mich Ihnen nur vorstellen als einen eifrigen und sehr interessierten Leser Ihres Buches ‚Nonni‘!“
„Nonni!“ rief ich überrascht aus. „Sie haben mein Buch ‚Nonni‘ gelesen?“
„Ja, gewiss, ich habe es vor kurzem gelesen — und zwar gerade wegen meiner bevorstehenden Islandreise. — In dem Buch wird erzählt, dass Nonni als zwölfjähriger Junge diese Reise gemacht hat. Und nun habe ich soeben gehört, dass der Nonni selber hier an Bord sei, und dass Sie es sind. Da bekam ich Lust, mit Ihnen einige Augenblicke zu sprechen und mich über die Reise zu informieren. Es ist nämlich das erste Mal, dass ich nach Island reise.“
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