Er gab mir seine Karte. Darauf stand: Dr. med. Lárus Sigurdsson, Winnipeg. Manitoba. Kanada.
„Sie sind wohl in Island geboren?“ fragte ich ihn, als ich ihn so korrekt isländisch sprechen hörte.
„Nein“, sagte er. „Ich bin in Amerika geboren und habe Island noch nie gesehen. Dies ist meine erste Reise dahin.“
„Dann haben sie immer in Kanada gelebt?“ fragte ich ihn.
„Nein. Ich habe meine medizinischen Studien an der Universität von San Francisco in Kalifornien gemacht. Von Kalifornien bin ich dann nach Winnipeg in Kanada gezogen, und habe dort meine Praxis.“
„Sie freuen sich wohl sehr und sind nicht wenig gespannt darauf, die alte Saga-Insel, das Vaterland Ihrer Eltern, zum ersten Male zu sehen?“
„O ja! Ich freue mich riesig und bin gewaltig darauf gespannt“, antwortete mir der junge Amerikaner.
„Island soll in den letzten zwanzig bis dreissig Jahren enorme Fortschritte gemacht haben, in jeder Beziehung. Es soll ja jetzt schon vollständig in den Strudel der modernen Zivilisation hineingeraten sein.“
„Gewiss. Es wird behauptet, dass das isländische Volk weit grössere und durchgreifendere Fortschritte in den letzten dreissig Jahren gemacht habe als vorher in Jahrhunderten.“
„Ja, ja. Das ist eine Tatsache. Die Umwandlung ist geradezu ungeheuer. Ich war das letzte Mal in Island vor sechsunddreissig Jahren. Meine Freunde sagen mir, dass ich jetzt weder Land noch Leute wieder erkennen werde.“
Wir sprachen noch eine Weile miteinander, aber die Bewegung und das Durcheinander auf dem mit Menschen überfüllten Deck waren so gross, dass wir bald auseinandergedrängt wurden.
Man konnte überhaupt nur ganz kurze Gespräche führen wegen der Unruhe überall ringsum.
Auf einmal ertönt ein lautes Tuten vom Kamin des Schiffes her. Es wird stärker und stärker und verwandelt sich schliesslich in ein alles übertönendes Heulen: es ist das vorletzte Zeichen zur Abfahrt.
Ein Auto rollt heran. Ein Herr und eine Dame sitzen darin, auf die man anscheinend bis dahin noch gewartet hat.
Die Unruhe auf dem Deck nimmt zu. Die Gespräche werden eifriger. Man nimmt Abschied voneinander. Viele drängen sich nach den Landungsbrücken und verlassen das Schiff, um sich dann in Gruppen an dem Kai aufzustellen.
Auf dem Verdeck bleiben verhältnismässig wenige Leute zurück, etwa 50 bis 60 Herren, dazu Damen und Kinder: das sind die Passagiere, die nach Island fahren.
Matrosen und Hafenangestellte lösen die letzten dicken Taue und Ketten, mit denen der Dampfer festgebunden war. Schwarzer Rauch und Dampfwolken entströmen immer dichter den Schornsteinen.
Der Kapitän mit einem Steuermann stehen schon oben auf der Kommandobrücke, um die Abfahrt zu leiten.
Viktor und die lebhaften dänisch-isländischen Kinder haben jetzt mehr Platz. Sie laufen und tollen lachend auf dem Deck umher.
Mit grossem Interesse schaue ich mir die Vorbereitungen zur Abfahrt an.
Plötzlich aber kommt Viktor an der Spitze der Kinderschar herangestürmt, und ich befinde mich auf einmal mitten unter ihnen.
„Hjerna! hjerna!“ („Hier! hier!“), ruft Viktor den Kindern zu.
„Die Kinder wollen Sie sprechen“, meldet er mir, „sie kennen schon Ihren Namen.“
Die Kinder grüssen mich und geben mir die Hand.
„Geht ihr alle nach Island?“ frage ich sie auf dänisch.
„Ja, ja, alle.“
„Und ihr seid nicht bange vor einer so langen Reise?“
„Bange!!!“ rufen die Kinder und lachen alle laut auf. „Wovor sollten wir bange sein?“
„Ja, die Stürme und die hohen Wellen! Davor ist euch nicht bange?“
„O nein! Das ist ja gerade der grösste Spass!“
„Aber die Seekrankheit?“
„O, die fürchten wir nicht. Die geht bald vorüber.“
„Es freut mich, Kinder, dass ihr so tapfer seid.“
Ein geweckter kleiner isländischer Junge, 8 bis 9 Jahre alt, kommt näher zu mir heran und sagt:
„Ist es wahr, dass du der ‚Nonni‘ bist?“
„Es gibt so viele Nonnis. Welchen Nonni meinst du?“
„Ich meine den Nonni, der die Nonnibücher geschrieben hat.“
„Ah, wenn du den meinst, dann muss ich es bekennen: der Nonni bin ich.“
Jetzt kommen sie alle näher und drängen sich ganz dicht an mich heran.
„Ist es wirklich wahr, dass du der Nonni bist?“ fragen jetzt auf einmal mehrere der andern Kinder.
„Ja, ja, ganz sicher.“
Alle schauen mich jetzt eine Weile stillschweigend an.
Ein kleines Mädchen bricht aber bald das Stillschweigen und fragt:
„Was ist aus dem Manni geworden?“
„Ach, der Manni ist schon lange gestorben.“
„Das steht ja gedruckt in dem Buch ‚Nonni und Manni‘“ ruft tadelnd ein geweckter kleiner Junge dem Mädchen zu.
„Ach ja, jetzt erinnere ich mich“, sagt dieses.
„Und die Bogga?“ fragt eines der kleinen Mädchen.
„Auch gestorben.“
„Wie schade!“ sagen mehrere der Kinder.
„Dann sind Sie ja ganz allein zurückgeblieben und haben keine Geschwister mehr?“ fragt ein kleiner Junge.
„Ich habe noch einen Bruder.“
„Wie heisst er?“
„Fridrik.“
„Wo wohnt er?“
„In Amerika.“
Da sie mit den Fragen fertig zu sein schienen, fragte ich meinerseits die Nächststehenden:
„Aber wie habt ihr meinen Namen kennengelernt?“
„Den haben wir aus den Nonnibüchern gelernt.“
„Habt ihr denn die Nonnibücher gelesen?“
„Ja!“ kam es von allen zusammen im Chore.
„Welche Nonnibücher habt ihr gelesen?“
„Wir haben sie alle gelesen.“
„Das ist doch nicht möglich.“
„Doch! Alle!“ versichern sie energisch.
Um zu sehen, ob es auch wahr sei, fragte ich eines der grösseren Mädchen:
„Welche Nonnibücher hast du gelesen?“
„Den ‚Nonni‘, ‚Die Stadt am Meer‘, ‚Die Sonnentage‘, ‚Die Abenteuer auf den Inseln‘, ‚Auf Skipalón‘, ‚Nonni und Manni‘, ‚Aus Island‘ und dann ‚Ein Ritt durch Island‘. — Dies letzte Buch habe ich auf dänisch gelesen — die andern aber auf isländisch.“
„Ist es möglich? Das alles habt ihr gelesen! Dann kennt ihr also den Owe?“
„O ja! Das war ja der Schiffsjunge auf dem ‚Valdemar von Rönne‘.“
„Und wer kennt den Karl?“
„Ich ... ich ... ich“, kam es von allen Seiten zurück.
„Wer war denn der Karl?“
„Das war der böse Junge in Kopenhagen, mit dem Sie in der Marmorkirche gekämpft haben.“
„Ganz richtig. — Und den Emil, kennt ihr auch den?“
„Den kennen wir auch. Das war der kleine Dieb.“
„Und den Harald? Wer kennt den?“
„Der Harald! Das war der gute Junge im Neuhafen. Er hat Ihnen einen Napoleonskuchen gegeben.“
„Ich bin erstaunt, Kinder, dass ihr alles das so genau behalten habt.“
Hier wurden wir aber plötzlich unterbrochen durch ein neues Heulen der Dampfpfeife. Die Mädchen hielten sich die Ohren zu.
Als das Getöne vorüber war, bat ich die Kinder, mit ihrem Spiel fortzufahren, und so trennten wir uns denn vorläufig.
Als sie fortliefen, riefen sie mir zu: „Auf Wiedersehen, Nonni! Jetzt fahren wir aufs Meer hinaus ...“
14. Aufs Atlantische Meer hinaus. Mächtige Grundwellen.
Die grosse Dampfmaschine des Schiffes hatte ihre schwere Arbeit angefangen. Ächzend drehten sich unten im Maschinenraum die gewaltigen Räder. Der ganze Schiffskörper zitterte und bebte, indem er sich langsam vom Kai entfernte.
Ich schaute nach diesem hin. Da war alles voll von Menschen, welche mit Hüten und Taschentüchern zu uns herüber winkten.
„Gute Reise! Auf Wiedersehen! Bleiben Sie gesund!“ hörte man in verschiedenen Sprachen vom Lande her rufen.
Langsam und vorsichtig bahnte sich die „Brúarfoss“ ihren Weg aus dem Hafen hinaus, mitten durch die vielen Schiffe hindurch, die da vor Anker lagen.
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