Jón Svensson
Die Feuerinsel im Nordmeer
Nonnis Fahrt zum Althing
Saga
1. Ich werde eingeladen, nach Island zu reisen.
Man denke sich die freudige Überraschung, als ich eines schönen Tages — es war im Monat Februar 1930 — von der isländischen Regierung die Einladung erhielt, nach meinem Vaterland, dem fernen Island, zu kommen.
Also eine Islandreise! Die zweite seit sechzig Jahren!
Ich sollte Gast des Landes sein. Und damit ich dieser Einladung auch bestimmt folgen könne, hat mir das isländische Parlament, das altehrwürdige tausendjährige „Althing“, ein schönes Reisegeld geschickt.
Zwei Gründe waren es, die das Althing bewogen haben, mich nach Island einzuladen: Zuerst wollten meine Landsleute mir ihre Dankbarkeit erweisen wegen der sogenannten „Nonnibücher“, die ich über meine Jugenderlebnisse geschrieben habe. Man sagte mir, dass meine Erzählungen dazu beigetragen hätten, mein Vaterland draussen in der Welt bekannt zu machen. Dann aber wollte mein Heimatland haben, dass ich an der Tausendjahrfeier des isländischen Parlaments teilnehme, die im Sommer 1930 begangen werden sollte.
So unglaublich es auch klingen mag, das Parlament oder Althing des kleinen isländischen Volkes ist das älteste Parlament der Welt. Es ist vor tausend Jahren von normannischen Edlen gegründet worden. Diese ehrenvolle Tatsache wollte man nun mit allem Glanze feiern. Und an diesem seltenen Fest sollte auch ich teilnehmen.
Für die Tausendjahrfeier waren der 26., 27. und 28. Juni 1930 bestimmt.
Tausende von Menschen waren eingeladen — Vertreter der Regierungen Europas und Amerikas, Gelehrte, Dichter und Künstler und eine Menge andere Gäste. Ich würde also in guter Gesellschaft sein.
Aber zunächst kam die Reise selbst, auf die ich mich natürlich sehr freute: die Fahrt über den Ozean vom europäischen Festland bis nach Island. Und dann die Fahrten und Ausflüge auf der schönen Feuerinsel im Nordmeer!
Seit sechsunddreissig Jahren hatte ich meine liebe Heimat nicht mehr gesehen. Im Jahre 1894 war ich zum letzten Mal dort gewesen — aber nur ein paar Monate lang.
Ein zwölfjähriger Kopenhagener Junge, „der kleine Frederik“, Sohn des bekannten dänischen Geschichtschreibers Professor Troels Lund, war damals mit mir gereist.
Diese Reise verlief prächtig. Die Seefahrt von Kopenhagen nach Island hin und zurück war wundervoll. Und noch schöner war unser siebzehntägiger Ritt auf den allerliebsten kleinen isländischen Pferden quer durch die herrliche Insel.
Gleich nach der Rückkehr schrieb ich ein Buch, in welchem ich unsere Reiseabenteuer erzählte.
Das Buch hatte den Titel „Zwischen Eis und Feuer — Ein Ritt durch Island“.
Dies war also meine erste Rückkehr nach Island gewesen. Denn im Jahre 1870 hatte ich als zwölfjähriger Junge — jetzt vor zweiundsechzig Jahren — die Insel verlassen auf dem kleinen Segler „Valdemar von Rönne“, um in Frankreich meine Ausbildung zu erhalten.
Meine damalige Reise habe ich erzählt in dem Buche „Nonni — Erlebnisse eines jungen Isländers, von ihm selbst erzählt“.
Und jetzt sollte ich wiederum nach Island kommen! ... Welch ein Glück!
2. Viele frisch-fröhliche Jungen wollen mit.
Ich hatte aber noch lange Zeit bis zum Aufbruch, im ganzen noch ungefähr vier Monate.
Ich befand mich damals in Wien, wohin ich eingeladen worden war, um jungen und alten Leuten Geschichten zu erzählen.
Von Wien aus sollte ich meine Vortragsreise ausdehnen nach Deutschland, Frankreich und der Schweiz.
In Gesprächen und auch in meinen Vorträgen erwähnte ich zuweilen meine bevorstehende Fahrt nach Island.
Da war es nun ganz eigenartig zu beobachten, welches Interesse meine Zuhörer überall für diese Reise bekundeten — besonders die jüngeren.
Eine Menge zwölf- bis dreizehnjährige Knaben waren eifrig bemüht, von ihren Eltern die Erlaubnis zu erlangen, mit mir nach Island zu fahren.
Ja sogar ein neunjähriger kleiner Wiener, kräftig und gesund, verriet mir im Vertrauen, dass seine Mutter dafür sei, sein Vater aber habe Angst.
„Was fürchtet dein Vater?“ fragte ich ihn.
„Er meint, ich sei zu jung, um die Strapazen auszuhalten.“
Ich suchte ihn zu trösten und fügte dann hinzu: „Etwas jung bist du schon, mein kleiner Freund!“
„Wie, jung!“ erwiderte der frische kleine Wiener eifrig. „Aber schauen Sie mich doch an! ... Bin ich denn so jung? Ich bin ja schon neun Jahre alt!“
Schliesslich aber siegten die Bedenken des Vaters, und der mutige kleine Wiener musste zu Hause bleiben.
Auch kräftige Schweizer Jungen, Luzerner und Züricher, Berner und Basler, wollten mit. Gerne hätte ich sie mitgenommen, aber immer kam etwas in den Weg — und warf alle Pläne über den Haufen.
Als ich von der Schweiz nach Paris kam, um dort meine Vorträge fortzusetzen, meldeten sich sofort zur Islandreise mehrere feurige kleine Franzosen.
„Monsieur“, sagte einer zu mir, „ich möchte so gern mit Ihnen nach Island. Meine Mama aber meint, ich könnte von den Eisbären aufgefressen werden.“
„Das wäre ja schrecklich, kleiner Freund. Ich glaube nun aber doch, dass du in dieser Beziehung deine Mama beruhigen kannst, denn im Sommer gibt es, Gott sei Dank, keine Eisbären in Island. Nur im Winter kommen zuweilen Bären auf den schwimmenden Eisbergen dorthin, aber bloss als Gäste und für kurze Zeit.“
„Das werde ich meiner Mutter sagen.“ — Trotz der Beruhigung wegen der Eisbärengefahr musste aber auch der unternehmungslustige kleine Pariser zu Hause bleiben.
Nach meinem Aufenthalt in Paris fuhr ich nach Süddeutschland, um mich eine Zeit lang in der reizenden Stadt Freiburg im Breisgau aufzuhalten.
Ich wohnte dort als Gast im Hause des weltberühmten Verlegers Hermann Herder.
Während meines Aufenthaltes in Freiburg meldeten sich wieder mehrere junge Bewerber für die bevorstehende Islandreise.
Diesmal achtete ich weniger darauf. — Weil die vielen vorhergehenden Versuche alle umsonst gewesen waren, sagte ich mir, dass bei den süddeutschen Jungen wohl auch nicht mehr herauskommen würde.
Doch darin habe ich mich gründlich getäuscht, denn gerade in Freiburg erhielt ich völlig unerwartet einen prächtigen süddeutschen Jungen als treuen und in jeder Beziehung angenehmen Gefährten für meine Islandreise.
3. Der sechzehnjährige Viktor wird auserwählt.
Ich will kurz erzählen, wie das geschah.
Schon mehr als einmal war ich bei früheren Gelegenheiten eingeladen worden, im Hause Herder vor den Angestellten der grossen Verlagsanstalt Vorträge zu halten. Eine solche Versammlung konnte dann leicht fünf- bis sechshundert Zuhörer zählen.
Da war es mir wiederholt aufgefallen, dass ausser den Erwachsenen eine kleine Zahl, etwa zwölf bis vierzehn, uniformierte Knaben anwesend waren. Da sie jedesmal durch ihre äussere Erscheinung und ihre vorzügliche Haltung einen ungewöhnlich guten Eindruck auf mich machten, erkundigte ich mich, was das für Jungen seien.
Es wurde mir gesagt, es seien talentvolle Knaben, die für das Geschäftshaus erzogen und ausgebildet würden.
Nun sollte mir eine grosse Überraschung gerade aus den Reihen dieser Zöglinge zuteil werden.
An einem der ersten Tage meines Aufenthaltes in seinem Hause kam Herr Herder, der Inhaber der Firma, zu mir und sagte:
„Werden Sie diesmal allein nach Island fahren, oder nehmen Sie, wie bei Ihrer letzten Islandreise, einen Begleiter mit?“
„Ich werde diesmal die Reise allein machen müssen“, erwiderte ich ihm, „denn obwohl mehrere junge Leute mitfahren wollten, ist es keinem von ihnen geglückt, diesen Wunsch zu verwirklichen.“
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