Auf einmal neigte sich das Schiff so stark nach der einen Seite, dass wir uns an einem Geländer festhalten mussten, um nicht umzufallen.
„Fabelhaft!“ rief Viktor begeistert aus. „Jetzt bin ich keine Landratte mehr ...!“
„Und von Seekrankheit merkst du nichts?“
„Nicht das Geringste. ... Ich möchte nur, dass wir ein wenig Sturm bekämen.“
„Ich möchte dir ein kleines Abenteuer gönnen! Du bist ja ‚seestark‘, wie die Seeleute sagen.“ —
Wir schauten zurück nach der Küste. Aber von der Küste oder vom Lande überhaupt war nichts mehr zu sehen.
Auf dem Meere dagegen, das uns immer noch pechschwarz zu sein schien, entdeckten wir rund um uns wunderschöne, buntleuchtende Lichtlein: rot, grün und golden.
Es waren Schiffe, grosse und kleine, die ja immer in der Finsternis ein jedes mit drei verschiedenen Lichtern in den genannten Farben versehen sein müssen.
So standen wir da oben auf dem Deck des rasch voranstürmenden Schiffes und genossen noch eine Zeit lang den eigenartigen, stimmungsvollen Zauber der nächtlichen Meeresfahrt.
Doch je weiter wir aufs Meer hinauskamen, desto grösser und unruhiger wurden die Wellen, und desto nachdrücklicher wurde das Schlingern und Schwanken des Schiffes. Das Bedürfnis nach Ruhe und Schlaf meldete sich bei uns immer dringender.
„Jetzt gehe ich schlafen“, sagte ich da endlich zu Viktor, indem ich ihm gute Nacht wünschte.
„Ich bleibe noch etwas auf und komme später hinunter“, erwiderte er.
So trennten wir uns, und kurz darauf lag ich wohlversorgt in meiner Koje.
Ich schlief gleich ein und merkte fortan nichts mehr, weder von Wind und Wellen, noch von den Bewegungen des Schiffes, noch von Viktor, als er etwas später hinunterkam und sich zur Ruhe legte.
Wir erfreuten uns dann beide ungestört eines tiefen, gesunden Schlafes, bis gegen 6 Uhr morgens ein lautes Geräusch vom Deck her und das schwere Ächzen und schrille Kreischen der Schiffsmaschine plötzlich uns aus unserer Ruhe herausrissen....
8. Landung in England. — Von Harwich nach London.
Der Dampfer war eben in Harwich an der englischen Küste angelangt und wurde nun an der Landungsstelle festgelegt.
Hier wartete ein Extrazug auf die Reisenden, die nach London wollten.
Rasch machten wir uns in unserer Kabine fertig — schlaftrunken, wie wir noch waren, und gingen auf Deck.
Da war grosse Bewegung. Die zahlreichen Reisenden drängten sich mit ihren Koffern und Päcken nach der Landungsbrücke, denn es galt jetzt, schnellstens durch die Zollrevision hindurchzukommen, um sich dann einen guten Platz in dem wartenden Londoner Zuge zu verschaffen.
Viktor und ich mischten uns in den Menschenstrom, der nach der Zollhalle flutete.
Vermutlich haben unsere ehrlichen Gesichter den Zollbeamten Vertrauen eingeflösst, denn sie liessen uns durch, ohne den Inhalt unserer Reisekoffer anzuschauen.
Kurz darauf sassen wir beide in einem freien Abteil des langen Londoner Zuges. Eine einfach gekleidete junge Engländerin kam noch zu uns herein und nahm uns gegenüber Platz. Das war unsere ganze Reisegesellschaft.
Der Zug setzte sich bald in Bewegung, und nach einigen Minuten sausten wir in interessanter Fahrt auf London zu.
Ich machte Viktor auf die schönen blühenden Weiden und Wiesen, auf die Äcker und Felder, die Blumen und Obstbäume aufmerksam.
Doch das alles zog ihn nicht sonderlich an.
„Es ist im Schwabenland doch schöner“, meinte er, „und die Natur viel üppiger. Allerdings sind wir dort auch viel südlicher.“
Nach einer Weile wandte sich das junge englische Fräulein an mich und fragte in überraschend gutem Deutsch:
„Wissen Sie, mein Herr, um wieviel Uhr unser Zug in London eintrifft?“
„Ich werde es Ihnen gleich sagen können, Fräulein“, erwiderte ich, indem ich in meinem Fahrplan nachschaute.
Sie dankte nach erhaltener Auskunft und fügte dann gleich die Frage hinzu: „Sie sind wohl beide Deutsche?“
„Der Junge ist aus Süddeutschland, ich aber bin Isländer.“
„Isländer! Sie sprechen aber Deutsch, gerade wie wenn Sie ein geborener Deutscher wären.“
„O, so gut nun gerade nicht. — Ihnen dagegen kann ich ohne Übertreibung dasselbe Lob spenden wie Sie mir, denn Sie sprechen ein tadelloses Deutsch, gerade wie wenn Sie eine Deutsche wären. Sie sind aber eine Engländerin, nicht wahr?“
„O nein, ich bin keine Engländerin. Ich bin aus Hamburg.“
„Da muss ich Sie um Verzeihung bitten. Ich habe Sie bestimmt für eine Engländerin gehalten. —Wahrscheinlich wohnen Sie aber in England?“
„Ja, ich bin in einem englischen Institut in London zu meiner Ausbildung.“
„So, so. Und Sie kommen gut mit den Engländern aus?“
„O ja, sehr gut. Ich fühle mich ungemein wohl und glücklich in England. Die englische Lebensweise gefällt mir. Und dazu kommt, dass die Engländer uns Deutsche ausserordentlich gern haben. Das hat schon zur Folge gehabt, dass ausser mir noch mehrere andere Hamburger junge Mädchen in dasselbe Institut gekommen sind. Wir sind jetzt ein halbes Dutzend deutsche Mädchen dort. Und alle fühlen sich sehr wohl bei den Engländern.“
Wir unterhielten uns über diese erfreuliche deutsch-englische Freundschaft, bis der Zug in der Londoner Liverpool-Station hielt. Dann ging die kleine Reisegesellschaft auseinander.
Viktor und ich begaben uns nun eiligst nach unserem Absteigequartier in Mount-Street, in nächster Nähe des berühmten Hydeparks.
Wir wurden daselbst von guten englischen Freunden herzlich empfangen und richteten uns dort für ein paar Tage ein.
Da ich schon öfters in London gewesen war und vieles dort gesehen hatte, und da ich ausserdem einige private Sachen besorgen musste, zog ich es vor, während unseres Aufenthalts in London zu Hause zu bleiben, statt Ausflüge durch die Stadt zu machen.
Anders aber verhielt es sich mit meinem jungen Freund. Er war natürlich sehr darauf gespannt, möglichst viel von der Riesenstadt zu sehen.
„Ich möchte am liebsten“, sagte er, „den ganzen Tag draussen sein und in der Stadt herumwandern und herumfahren.“
Da ich diesen Wunsch vernünftig und berechtigt fand, so entschloss ich mich sehr bald, auf das ruhige Zuhausebleiben zu verzichten und ihn selber durch die Stadt zu führen.
Auf einmal aber fand diese Frage unerwartet eine andere glückliche Lösung.
Kurz nach unserer Ankunft in Mount-Street, während ich in meinem Zimmer sass, wird plötzlich kräftig an die Türe geklopft.
Auf mein „Herein“ stürmt ein jüngerer Herr ins Zimmer. Ein freundlicher Deutscher, den ich sofort erkannte, obwohl ich ihn seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Er hiess Bruno Bitter und war vor mehr als 20 Jahren unter meinen Schülern gewesen im dänischen St. Andreas-Gymnasium bei Kopenhagen, wo ich damals als Gymnasiallehrer tätig war.
„Aber, mein lieber Bruno!“ rief ich nach der ersten herzlichen Begrüssung aus, „wie kommt es, dass wir uns hier treffen?“
„Und wie kommt es, dass mein lieber alter Lehrer plötzlich nach London gekommen ist?“
Wir setzten uns und gaben einander gegenseitig die notwendigen Aufschlüsse. Als Bruno hörte, wie es mit meinem jungen Reisebegleiter stand, bot er sich gleich mit der grössten Freude an, ihn in seine Hut zu nehmen und während der zwei zur Verfügung stehenden Tage kreuz und quer durch ganz London herumzuführen.
Viktor, den ich auf der Stelle rufen liess, befreundete sich sofort mit seinem Landsmann und nahm mit Begeisterung den Vorschlag an.
Dann flogen die beiden nur so durch die mächtige Weltstadt, und Viktor bekam so viel Grossartiges und Schönes zu sehen, dass er am Abend kaum Zeit genug fand, um mir auch nur einen kleinen Teil vom Gesehenen und Erlebten zu erzählen.
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