Wolf gefiel dieser Enthusiasmus, der verriet, daß Schimssa mental mehr zu den Jungen gehörte. Er tat ihm den Gefallen gern, weil der Planungsverlauf seine Zweifel zerstreut und ihm sogar beachtliche Reserven aufgedeckt hatte. Und so verblüffte er Schimssa durch den Vorschlag, die Wiederholung des wöchentlichen Lehrstoffs schon in den Freitagsblock einzubauen und den Samstag Ausflügen vorzubehalten. Studienfahrten, fügte er lächelnd hinzu, als er sah, wie Schimssa in die Knie ging, und erläuterte ihm, wie er sich das vorstellte: Die Klasse fährt an einen der mit dem durchgenommenen Thema verknüpften Orte, von denen es in der Heimat nur so wimmelt, sei es nun ein berühmter Galgenberg, der moderne Vollstrekkungsraum einer Bezirksstrafanstalt oder eine andere interessante Lokalität. Unterwegs können die Kinder Sport treiben, und die Pädagogen erhalten Gelegenheit, sie aus einer anderen Perspektive kennenzulernen als ex cathedra. Schimmsa war begeistert, und seine Beziehung zu Wolf wurde inniger, ohne daß sie allerdings die Grenzen überschritt, die sowohl Respekt als auch Subordination diktierten.
Sie waren einfach glücklich und fruchtbar, diese Tage Ende Januar, und das Kaffeehauspersonal, das längst zu der Erkenntnis gelangt war, daß diese fleißigen Männer nicht zu den Müßiggängern aus der Schauspielschule gehörten, sondern zu den führenden Vertretern der benachbarten Akademie der Wissenschaften, spürte das und bemühte sich, ihnen Störungen fernzuhalten. Es errichtete um sie einen Wall aus Tischen mit Reserviert-Schildern, was ebenso rührend wie überflüssig war: Sie nahmen die Welt, in der sie lebten, längst nicht mehr wahr; sie weilten mit sämtlichen Sinnen bereits in der Welt, die aus diesen beschriebenen Papieren erst erstehen sollte. Sie planten Exkursionen, diskutierten über die Einrichtung von Kabinetten, ersannen kulturelle und sportliche Unternehmungen, stießen auf die Frage der Mittagspause und somit der Verpflegung, lösten hundert und ein Problem, hatten aber bei alledem das Gefühl, über den Berg zu sein. Das zweiundvierzigste Blatt duftete nach dem Heu des nächsten Sommers und trug die Überschrift Abitur- und meisterprüfungen. Sie paraphierten es am 1. März.

Tab. 3
Anschließend machten sie sich an die »Tagespläne«. Selbst nach Abzug von Exkursionen, Sonntagen, Weihnachten und Prüfungszeit verblieben noch 279 Unterrichtstage und zehnmal so viele Unterrichtsstunden; jede davon mußte mit genau dosiertem Inhalt ausgefüllt werden und garantiert erfolgreich ablaufen. Das bedeutete, 2790mal Fragen fast detektivischen Charakters zu beantworten: was, wie, wer und wo, woher und wohin, desgleichen womit. Diese zwar mechanische Aufgabe – die, wie Wolf es nett ausdrückte, eher gutes Sitzfleisch als einen guten Kopf erforderte – erwies sich jedoch als recht kompliziert, da die ersten Unbekannten dem Projekt ihre Aufwartung machten: die externen Mitarbeiter.
Der Doktor hatte sich schon früher ihren Vorschlag zu eigen gemacht und beim Investor durchgesetzt, den Schülern einige marginale Spezialgebiete per Fernstudium nahezubringen. Davon versprach man sich vor allem eine Beschränkung des Kreises der Eingeweihten, denn die Pädagogen der zuständigen Fachschulen, die in der Freizeit auf eigenem Boden unterrichteten, würden für ein angemessenes Honorar ihre Routinearbeit verrichten, ohne die Zusammenhänge auch nur zu ahnen. Es war bereits ausgemacht, daß zur Bedingung für die Aufnahme in die Höhere Lehranstalt für Exekutionswesen – so der endgültige Name der Schule – ein schriftliches Schweigegelübde seitens der Schüler und Eltern abgelegt werden sollte, die bei Nichteinhaltung eine strenge Bestrafung zu gewärtigen hätten. Zwecks völliger Geheimhaltung mußten jedoch auch organisatorische Voraussetzungen geschaffen werden: Als ebenso gefährlich wie Indiskretion mochte sich simple Unachtsamkeit erweisen. Der Name der Schule wurde deshalb so gewählt, daß die Abkürzung Höhle auch »Höhere Lehranstalt für Ernährungswissenschaft« bedeuten konnte. Unter diesem Decknamen sollten die Schüler ambulant Nebenfächer studieren und sich Verwandten, Freunden, Behörden und dergleichen präsentieren. Der wachsame Doktor kalkulierte sogar mit ein, daß man sie früher oder später irgendwo auffordern würde, etwas zu kochen, und er setzte durch, daß Wolf unter »Sonstiges« auch ein kulinarisches Minimum einplante.

Tab. 4
Noch ein Problem erhob sich. Da Wolf und Schimssa die ideelle, juristische und materielle Verantwortung für das gesamte Institut tragen, in zwei Hauptfächern unterrichten und zudem ihren Beruf ausüben sollten, um nicht das Schicksal jener Wissenschaftler erleiden zu müssen, die den Kontakt mit dem Leben verloren haben, konnten sie nicht noch zusätzlich Requisiten aus den Kabinetten herbeischaffen oder das Gelände abschließen. Die Tagespläne mußten also unbedingt zumindest dem Schulwart und den eingeweihten qualifizierten Mitarbeitern ausgehändigt werden. Hierbei drohte nun die reale Gefahr des Verlustes, und sei es durch höhere Gewalt. Vorbeugen konnte man nur mit Hilfe von Chiffren.*) Als sie die erste, für den Doktor, suchten, nahm Schimssa einen Bleistift und begann Umstellungen vorzunehmen. Dabei kam zunächst Rot heraus, gleich beim nächsten Versuch aber Kord. Nach wochenlanger intellektueller Plackerei stellte sich eine spontane Reaktion ein: Schimssa lachte wie ein Kind, und Wolf sekundierte ihm fröhlich. Der aufgeschreckte Kellner, gewöhnt, ihnen in regelmäßigen Intervallen Kaffee oder Grenadine zu servieren – zu ihrer Klausur gehörte auch Abstinenz – eilte herbei, um zu fragen, ob die Herren etwas wünschten.
Sie wünschten französischen Cognac und wünschten ferner, dieser möge für immer das ekelhafte rosa Wasser ersetzen, woraufhin das Personal überzeugt war, sie hätten eben eine Entdeckung gemacht, die ihnen den Staatspreis eintragen mußte. Von Stund an war es, als hätten sie eine anstrengende Fußwanderung beendet und glitten auf den Flügeln des Erfolges dahin. Unter Lachsalven führten sie die Liste der Abkürzungen zu Ende und stürzten sich auf den Stundenplan. Obwohl es sich um komplizierte Verknüpfungen der einzelnen Stoffe, um Übergänge zwischen den Objekten und Verschiebungen der Pädagogen und Lehrmittel handelte, bewältigten sie spielend bis zu dreißig Tagen pro Tag, so daß sie am 20. März zur Mittagsstunde buchstäblich einen Eisenbahnfahrplan vor sich hatten, der gewährleistete, daß sie mit ihren Schülern auf die Minute pünktlich und auf den Zentimeter genau die Endstation erreichen würden.

Wie Läufer, die ungeachtet ihrer Erschöpfung aus Freude über den Sieg noch eine Runde laufen, nahmen sie sich unverzüglich die letzte Folge vor: Wen sie eigentlich ausbilden und woher sie die Auszubildenden nehmen sollten. Sie spürten, daß sie einen jener kostbaren Lebenstage durchlebten, da kein Maler den Pinsel und kein Dichter die Feder weglegt, um Gott nicht zu versuchen. Sie waren bereits früher übereingekommen, daß die Klasse keine Serienprodukte, sondern verschieden profilierte Persönlichkeiten hervorbringen sollte. Sieben, ergänzten sie nun. Diese Zahl, weder zu groß noch zu klein und darüber hinaus mit einer gewissen magischen Tradition behaftet, repräsentierte ein leicht zu handhabendes Kollektiv und versprach schlechtestenfalls ein brauchbares Fünfergespann. Danach gingen sie von beiden Richtungen aus: von idealen Typen und von konkreten Namen.
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