»Das nutzt Ihnen gar nichts«, sage ich, »Sie müssen sich auf eine Strafanzeige gefaßt machen.«
»Aber wieso denn? Wenn ich Ihnen doch sage …«
»Passen Sie in Zukunft besser auf! Und jetzt geben Sie mir eine Tasse Kaffee.«
Eilig macht er sich an der Kaffeemaschine zu schaffen. Anscheinend hofft er, durch Dienstfertigkeit an einer Anzeige vorbeizukommen. Aber da hat er sich geschnitten. Eine Geldstrafe ist das mindeste, womit er rechnen muß. Vielleicht wird ihm sogar das Lokal geschlossen. Ich habe kein Mitleid mit ihm.
Ich schiebe die Tasse Kaffee, die er mir reicht, dem Mädchen zu. »Los, trink! Damit du wieder zu dir kommst. Wie heißt du?«
»Ingrid Haas«, sagt sie, kaum hörbar.
»Und wo wohnst du?«
»In Freiburg.« Das kommt noch leiser.
Ich warte, bis sie die Tasse geleert hat. »Na, gehen wir!«
Nachdem ich Ingrid in unseren Streifenwagen bugsiert habe, hält Mark Heller mich zurück. Er winkt Unterhuber, sich neben sie zu setzen.
»Der Mann heißt Slavic Perco«, berichtet er, »seine Papiere sind in Ordnung. Er wohnt in der Einsteinstraße, im gleichen Zimmer wie seine beiden Kumpane und noch zwei Landsleute. Er ist krank geschrieben und war deshalb heute nicht zur Arbeit. Hatte das Zimmer tagsüber für sich. Die Kleine hat er heute nachmittag in einem Strafiencafé aufgegabelt und gleich mit hochgenommen. Das nur zu Ihrer Information.«
»Danke«, sage ich, obwohl ich ihm gar nicht dankbar bin. Im Gegenteil, ich ärgere mich über Hellers Auskunft, obwohl ich doch genau weiß, daß er nicht für die Dummheit des Mädchens verantwortlich ist.
Bevor wir losfahren, nimmt Heller Verbindung mit der Funkzentrale auf und erfährt, daß Isar zwölf noch auf dem Revier ist.
Wir fahren schweigend zurück. Ich habe keine Lust, mich in Anwesenheit der Männer mit Ingrid zu unterhalten.
Als wir auf dem Polizeirevier 23 eintreffen, sind die anderen fertig. Das kleine Vernehmungszimmer steht mir wieder zur Verfügung. Unterhuber und Müller schließen sich der nächsten Streife an. Mark Heller bleibt, und obwohl ich ihn eigentlich nicht mag — er strotzt nur so von männlicher Überlegenheit —, finde ich das eigentlich doch sehr kameradschaftlich.
»Machen Sie zu, Monika«, drängt er, »damit wir bald wieder loskönnen.«
»Würden Sie inzwischen die Angaben des Mädchens nachprüfen?« bitte ich ihn.
»Klar! Ich setze mich sofort mit dem Polizeipräsidium in Verbindung. Welches Alter gibt sie denn an?«
»Hab ich noch nicht gefragt.«
»Ich werd’s schon rausbringen.«
Ingrid steht mitten in dem nüchternen kleinen Zimmer und sieht sich unsicher um.
Ich nehme ihr den Regenmantel ab und hänge ihn auf einen Haken. »Setz dich!« Ich weise auf den Stuhl gegenüber dem Schreibtisch und lächle ihr zu, um sie zu beruhigen. »Du brauchst keine Angst zu haben, Ingrid. Ich will dir nichts tun, sondern nur versuchen, dir zu helfen.«
»Wozu?« erwidert sie trotzig. »Ich werd’ ganz gut allein fertig.« Sie ist nicht besonders hübsch, ihre Augen sind ausdruckslos, das Kinn ist spitz.
»Indem du mit wildfremden Männern schläfst?«
»Ich, nein, ich habe nicht …« Sie wird rot und gerät ins Stottern.
»Wir haben die Aussage dieses Slavic. Er hat dich doch gleich mit auf sein Zimmer genommen.«
»Ja. Ach … wegen meiner Sachen. Ich mußte doch irgendwo schlafen.«
»Du hast also deinen Koffer in der Einsteinstraße?«
»Nein. Keinen Koffer. Ich bin ja heimlich weg. Nur eine blaue Leinentasche.«
»Wegen der brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Die holen wir dir schon.« Ich spanne eines der rosa Formblätter ein.
»Ich mache mir auch keine Gedanken. Überhaupt nicht. Von mir aus können Sie mich ruhig in ein Heim sperren. Das ist mir auch egal.«
»So weit sind wir noch lange nicht. Jetzt gib mir erst mal deine Adresse …«
Ich schreibe Ingrids Personalien auf. Sie behauptet achtzehn zu sein. Das glaube ich nicht. Also lasse ich da vorerst einen freien Platz.
»Du hast also Schwierigkeiten mit deinen Eltern?«
»Nicht direkt.« Sie zerrt nervös an ihrem Rocksaum herum.
Heller kommt herein, er stellt sich schräg hinter mich und überfliegt, was ich getippt habe. »Sie ist fünfzehn«, sagt er, »heute früh von zu Hause ausgekniffen, anstatt zur Arbeit zu gehen. Eltern haben kein Telefon. Soll ich sie schon bei einem Verwahramt anmelden?«
»Das wäre nett.«
Heller läßt uns allein.
»Also doch ins Heim«, stößt Ingrid hervor.
»Vorerst. Nur für diese Nacht. Also, was ist los mit dir? Warum bist du von zu Hause weg? Du gehst in eine Lehre, ja?«
»Seit dem vorigen Herbst. Schneiderei. Ich habe das immer gern getan … Puppenkleider genäht und so … überhaupt handarbeiten. Und zeichnen tu ich auch gern, Modelle entwerfen.« Sie sieht an ihrem Sommerkleid hinunter. »Das habe ich zum Beispiel selbst gemacht.«
»Dann hast du ja eine richtige Begabung!«
»Das habe ich auch gedacht!« stößt Ingrid bitter hervor. »Aber Fräulein Knobel, das ist die Meisterin, die hat mich behandelt wie den letzten Menschen! Am Anfang war sie ja noch zuckersüß … und ich habe mir auch alle Mühe gegeben … getrennt und gesäumt, Nähte sauber gemacht und die Stube gekehrt wie eine Verrückte. Ich dachte, das wäre nun mal so … und einen oder zwei oder sogar drei Monate hätte ich mir das auch gefallen lassen. Aber als dann immer noch nichts passierte, da habe ich natürlich gemotzt. Ich wollte auch mal was Richtiges machen, was Interessantes … und was lernen! Da ist die Knobel furchtbar sauer geworden, und danach hat sie mich dauernd runtergeputzt. ‚Du hast zwei linke Hände’, hat sie immer gemeckert, also mir kam das schon zu den Ohren raus!«
»Hast du mit deinen Eltern darüber gesprochen?«
»Versucht!« Ingrid zuckt mit den mageren Schultern. »Aber die wollten nichts wissen. Die haben immer bloß gesagt, ich müßte durchhalten, ich müßte endlich mal was fertigbringen, und das wäre nun mal so in der Lehre. Jeder würde klein anfangen. Ich wäre eben bloß das Arbeiten nicht gewohnt.«
»Und deshalb bist du gestern abgehauen?«
»Nein, da war noch was. Gestern … ja, das war gestern … da hat es wieder mal Ärger mit der Knobel gegeben. Ich bin frech geworden. Und da hat sie mir eine geschmiert.« Ingrids Augen füllten sich mit Tränen. »Na, und das war mir zuviel … weil meine Mutti auch wieder nicht mit der Alten sprechen wollte!«
Meine Finger ratterten über die Tasten. »Und wie bist du dann nach München gekommen?«
»Per Anhalter.«
»Irgend was unterwegs passiert? Ist einer zudringlich geworden?«
»Nein, gar nicht. Die waren alle sehr nett.«
»Und Slavic Perco?«
»Man kann doch nichts verlangen, ohne was zu geben, nicht?« fragt sie, ohne den Blick zu senken. »Ich wollte ja was von ihm. Ein Bett für die Nacht. Und natürlich habe ich gesagt, ich bin achtzehn.«
»Aber in diesem Zimmer schlafen doch noch vier andere Männer. Bist du nicht auf die Idee gekommen, daß auch die …?«
»Slavic hätte schon aufgepaßt.«
»Und wenn nicht?«
Sie zuckt wieder mit den Schultern.
»Du hattest also schon Erlebnisse in Freiburg?«
»Einen Freund, ja. Aber das war auch nicht der Richtige.«
»Na, jedenfalls«, muß ich ihr sagen, »kannst du froh sein, daß wir dich schon heute erwischt haben. Wer weiß, wo du sonst noch gelandet wärst.«
Ich beeile mich mit dem Protokoll. Wenn Ingrids Eltern Strafanzeige stellen, wird Perco sich vor dem Richter verantworten müssen. Er hätte sehen müssen, wie alt Ingrid ist. Das Freiburger Jugendamt wird Ingrids Lehrherrin auf die Finger klopfen; sie hätte das Mädchen nicht schlagen dürfen. Wahrscheinlich wird Ingrid eine andere Lehrstelle bekommen.
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