Haus der gefangenen Herzen
Marie Louise Fischer
Romane
SAGA Egmont
Haus der gefangenen Herzen
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, ( www.marielouisefischer.de) represented by AVA international GmbH, Germany ( www.ava-international.de)
Originally published 1976 by Xenos Verlagsges., Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711718889
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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Haus der gefangen herzen
„Hurra, das wäre geschafft!” rief Yvonne und warf ihren Koffer mit Schwung auf eines der beiden Betten. „Moralpredigten, Standpauken und Familienzeremonien bis zu den nächsten Ferien mal wieder heil überstanden. Nie hätte ich gedacht, daß ich mich auf den ersten Schultag freuen könnte.”
„War’s so schlimm?” erkundigte sich ihre Freundin Helga mitfühlend. „Aber ich muß schon sagen, in der Prachtbude, die wir fürs neue Schuljahr ergattert haben, kann ich dem Internatsleben neue Reize abgewinnen.”
Helga öffnete eines der Fenster ihres im renovierten Ostflügels des Schloßinternates Hohenwartau gelegenen Zimmers und genoß den freien Blick über den Schloßpark, die Tennisplätze, das Schwimmbad bis zu den Alpengipfeln. „Die Aussicht ist einfach umwerfend!”
Yvonne betrachtete ihr hübsches, braungebranntes Gesicht mit den hellblauen Augen und dem weichfallenden blonden Haar wohlgefällig in dem kleinen Taschenspiegel. „Aber Penne bleibt Penne, und bei der Büffelei wird uns das Lachen schon noch vergehen”, gab sie zu bedenken. „Möchte bloß wissen, wozu das alles gut sein soll. Na ja, wenn’s brenzlig wird, kann ich ja immer noch heiraten. Mit einem reichen, schikken Knaben wär ich ein für allemal die Sorgen los.”
Beide mußten lachen.
„Du, hier habe ich was für dich. Als ich die Sachen im Schaufenster sah, bin ich drauf geflogen. Hinterher merkte ich aber leider, daß sie zu meinem blonden Haar unmöglich aussehen.”
Yvonne zog einen knallgelben Schal und eine passende Baskenmütze aus dem Koffer und warf beides der Freundin zu.
Helgas braune Augen strahlten vor Freude. „Du, die sind ja wirklich rasant!” staunte sie. Sie setzte die Mütze auf ihr braunes Haar, schlang den Schal um den Hals und rannte in den Waschraum, um sich im Spiegel zu bewundern.
„Wenn ich dich nicht hätte, Yvonne”, sagte sie, als sie zurückkam, „wüßte ich wahrhaftig nicht, womit ich meine alten Klamotten aufmöbeln könnte. Aber was will ich bei fünf Geschwistern schon groß verlangen von meinem Vater.”
Zehn Minuten später – Helga und Yvonne waren gerade beim Überziehen der Betten – stürmte Barbara Miller, genannt Babsy, zu ihnen herein, eine langbeinige, ebenholzschwarze Schönheit.
„Kinder, eine Sensation!” rief sie aufgeregt. „Kommt rasch! Ein neuer Pauker ist da!” Und schon war sie wieder draußen.
Helga und Yvonne stürzten ihr nach in das große Wohnzimmer, dessen Fenster zum Hof hinaus blickten. Ellen, ein sportliches Mädchen mit honigblondem Haar, deren Vater als Botschafter in Afrika lebte, lehnte weit über die Brüstung und starrte hinunter. Babsy hatte sich neben sie gequetscht, und die rothaarige Uschi öffnete gerade das zweite Fenster und spähte hinab.
„Wo? Wo? Wo?” rief sie aufgeregt.
Aber ohne ihre Brille, die sie aus Eitelkeit nur selten auf der Nase hatte, war sie auf Ellens Beschreibung angewiesen:
„Peil das knallrote kleine Auto genau gegenüber an! Der junge Mann mit der Tweedjacke, der ist es!”
Uschi konnte nichts als einen verschwommenen roten Fleck erkennen und raffte sich nun doch auf, ihre Brille zu holen.
Yvonne hatte sich auf die Brüstung geschwungen. „Eine tolle Type”, stellte sie sachkundig fest, „wie der seinen Regenmantel über der Schulter trägt – einfach lässig.”
„Sieht nicht schlecht aus’’, gab Helga zu, „aber woher wollt ihr überhaupt wissen, daß er Pauker ist?”
„Das kannst du dir doch an allen fünf Fingern abzählen!” erklärte Babsy. „Er ist zu jung, um Vater einer Schülerin zu sein, und außerdem ist er ganz allein gekommen …”
„Ist doch sonnenklar”, unterbrach sie Ellen. „Dr. Hansemann ist pensioniert worden, und Tweedy ist unser neuer Lehrer für Deutsch und Englisch.”
Und schon hatte der junge Mann in der Tweedjacke seinen Spitznamen weg.
„Fast zu schön, um wahr zu sein”, sagte Yvonne, „ein klasse Lehrer, das wäre endlich mal ein Lichtblick in unserem trüben Dasein!”
„Süß!” hauchte Uschi, die nun endlich ihre Brille aufhatte und die Sensation erspähen konnte.
Unten tat sich etwas Neues. Fräulein Gertrud Pförtner, Turn- und Handarbeitslehrerin des Internates, außerdem Tochter des Direktors, trat auf den Ankömmling zu und begrüßte ihn mit Handschlag.
Drei weitere Schülerinnen der zwölften Klasse, Margot, Hannelore und Ilse, polterten mit ihrem Gepäck in das Wohnzimmer. „Wir haben einen neuen Lehrer!” riefen sie gleichzeitig. „Doktor Herbert Jung heißt er! – unterrichtet Deutsch und Englisch! – Trudchen begrüßt ihn gerade!”
„Was ihr nicht sagt!” piepste Babsy zurück. „Wir beobachten Tweedys ersten Auftritt schon seit fünf Minuten von unseren Logenplätzen aus.” Babsys Eltern waren berühmte Opernsänger, ihre Mutter war in Mailand, ihr Vater in München engagiert, und so lag ihr der Theatervergleich nahe.
„Jedenfalls ist er genau mein Typ”, stellte Yvonne fest, „wenn das nichts mit uns wird, schluck ich ‘nen Besen quer.”
„Dann erstick mal schön. Wetten, daß ich größere Chancen habe”, erklärte Hannelore. Sie war schon 19 Jahre alt, sehr damenhaft, mit kastanienrot getöntem Haar und Erfahrungen.
„Nur zu eurer Information: Macht euch auf meine Konkurrenz gefaßt!” verkündete Margot.
„Das ist doch die Höhe!” rief Yvonne. „Ich denke, du bist glücklich verlobt?”
„Drum prüfe, wer sich ewig bindet, ob sich nicht doch was Besseres findet!” lachte Margot.
„Wenn eine von uns überhaupt eine Chance hat, dann bin ich es”, behauptete die strohblonde, sommersprossige Ilse.
Helga wurde es zu bunt. „Leutchen, mir scheint, ihr seid komplett verrückt! Bildet ihr euch denn wirklich ein, daß Tweedy mit einer von uns anbändeln würde? So bekloppt ist er bestimmt nicht, es würde ihn ja seine Stellung kosten! Ganz davon abgesehen finde ich, daß ihr doch ein bißchen zu alt sein solltet für so eine blödsinnige Schwärmerei!”
„Das ist keine Schwärmerei, das ist Liebe auf den ersten Blick!” schrie Yvonne.
In diesem Augenblick brauste Fräulein von Zirpitz, die Erzieherin der zwölften Klasse, in das Wohnzimmer. „Meine Damen, meine Damen!” rief sie und klatschte affektiert in die Hände. „Ich bin empört. Ich sehe mich gezwungen, dieses unqualifizierte Betragen dem Herrn Direktor zu melden.”
Die Mädchen verließen eilig ihre Fensterplätze und bestürmten Fräulein von Zirpitz, genannt die Zirpe, mit Bitten um Gnade.
„Nein, nein, nein!” wehrte sie ab. „Machen Sie sich lieber sofort daran, Ihre Sachen auszupacken und die Betten zu überziehen. In einer halben Stunde werde ich die Zimmer inspizieren.” Sie rauschte davon.
Alle beeilten sich, daß sie in ihre Zimmer kamen, und begannen in rasender Eile ihre Sachen zu verstauen. Die Zirpe verstand es, ihnen das Internatsleben zu vermiesen.
Gleich am ersten Schultag hatte die zwölfte Klasse in der dritten Stunde Deutschunterricht. Als der neue Lehrer den Raum betrat, hielten die Mädchen den Atem an. Würde er aus der Nähe auch so attraktiv wirken, wie er ihnen auf den ersten Blick vom Schloßfenster herab erschienen war?
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