Ich zögere kurz. »München achtzig, Richard-Strauss-Straße siebenundneunzig«, sage ich dann, »fünfter Stock.«
»Das hätten Sie nicht tun sollen«, meint Heller, als er mir in den Streifenwagen hilft, der in der Toreinfahrt auf uns wartet, »ich bin zwar froh, daß ich auf diese Weise erfahren habe, wo Sie wohnen … aber das war ein Fehler.«
»Ich konnte sie nicht einfach abwimmeln!« verteidige ich mich.
»Ach was! Eine Zigarette wäre ihr bestimmt lieber gewesen.«
»Haben Sie denn gar kein Herz?«
»Nicht im Dienst, Monika. Das werden Sie noch lernen müssen. Wer in den Dienst Herz investiert, macht sich nur kaputt. Und außerdem — das brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen —, so einem Flittchen wie dieser Kleinen ist gar nicht zu helfen. Die landet früher oder später doch auf der Straße.«
»Das muß nicht sein«, behaupte ich, »wenn wir sie jetzt nicht fallenlassen!«
Mark Heller schweigt. Aber ich weiß, daß ich ihn nicht überzeugt habe. Er hat Doris Sieben abgeschrieben. Ich denke nicht daran, mich deswegen mit ihm zu streiten. Er würde ihr so und so nicht helfen.
Wieder fahren wir durch das nächtliche München. Ich sitze jetzt auf dem Vordersitz, zwischen dem Fahrer und Mark Heller. Herr Wolff ist auf dem Revier zurückgeblieben.
Heller nimmt durch Sprechfunk Verbindung mit dem anderen Streifenwagen auf. »Hier Isar neun … Isar neun … Isar zwölf, bitte melden …«
Er muß ein paarmal versuchen, bis Herr Schmitt, unser Einsatzleiter, durchkommt. »Hier Isar zwölf … haben drei Festnahmen … fahren zum Revier zurück.«
»Hier Isar neun … kommen vom Revier … sollen wir warten?«
»Fahren Sie Pettenkofer-/Paul-Heyse-Straße.«
»Pettenkofer-/Paul-Heyse-Straße … haben verstanden … Ende!« Heller hängt das Mikrofon zurück.
Wenige Minuten später halten wir hinter Isar zwölf, der mit abgeblendeten Scheinwerfern am Straßenrand parkt. Heller und ich springen raus; diesmal stütze ich mich kurz auf den Arm, den er mir bietet, und lande sicher auf beiden Füßen.
Schmitt kommt uns entgegen. »Kennen Sie den ‚Kalifen‘?«
»Den Ausländertreff in der Sendlinger Straße?« fragt Heller zurück. »Ja, sicher.«
»Der steht als nächstes auf unserem Programm.« Schmitt läßt das Licht seiner Taschenlampe über die Liste gleiten. »Der Wirt heißt … warten Sie mal … Gruhnert, Ralf Gruhnert. Nehmen Sie sich das Lokal mal vor.«
»Wird gemacht.«
»Ich gebe Ihnen noch zwei Leute mit. Müller … Unterhuber!«
Die beiden scheinen nur auf dieses Kommando gewartet zu haben; sie steigen eilig zu uns über.
»Na, dann mal los«, ruft Schmitt, »wir bleiben in Verbindung.«
Heller und ich klettern wieder in unseren Streifenwagen. Der Fahrer gibt so kräftig Gas, daß wir losschießen wie eine Rakete. Wir werden gegen die harte Lehne geschleudert und lachen. Eigentlich ohne Grund. Aber wir sind ein bißchen nervös, ich jedenfalls. Nicht, daß ich Angst habe, ganz bestimmt nicht. Es ist eher ein Gefühl wie Lampenfieber. Und ich weiß schon heute, daß ich das vor einer Razzia nie verlieren werde, solang ich im Polizeidienst bin.
Der »Kalif« macht vorerst einen ganz ordentlichen Eindruck: Tische mit rotkarierten Decken, die allerdings alles andere als sauber sind, Tropfkerzen auf weißen Tellern, einfache Holzstühle.
Während Heller sich den Wirt kommen läßt und ihm klarmacht, wer wir sind und was wir wollen, drängen sich Müller und Unterhuber schon durch die Reihen. Ich sehe mich noch um. Das Publikum wirkt ziemlich düster: dunkle Gesichter, schwarze Augen, fettige Haare. Männer sind bei weitem in der Überzahl. Obwohl sie wahrscheinlich ganz harmlos sind — redliche Gastarbeiter —, wird mir ein bißchen mulmig bei soviel Fremdartigkeit. Einige starren mich an und grinsen, als hätten sie ziemlich schmutzige, hinterhältige Gedanken.
So ziehe ich es vor, hinter Heller zu bleiben.
Ich beobachte, wie zwei Burschen hastig aufspringen und, ohne zu zahlen, zum Ausgang eilen. Ich mache Heller darauf aufmerksam.
»Einfach ignorieren«, sagt der, »die haben keine Aufenthaltsgenehmigung oder die Taschen voll Stoff … aber das geht uns heute zum Glück nichts an.«
Ein alter Mann spielt auf einem Bandoneon eine melancholisch-wilde Tanzmelodie, die wahrscheinlich ein Sirtaki sein soll. Auf einem freien Platz zwischen den Tischen tanzen danach zwei Männer miteinander. Sie machen große Sprünge und klatschen in die Hände. Ein Mann und eine vollbusige Frau eng aneinandergeschmiegt — und plötzlich sehe ich ein blutjunges Mädchen.
Es hat ein rundes, kindliches Gesicht, trägt das lange, blonde, ziemlich strähnige Haar mit einem Mittelscheitel und hält den Kopf beim Tanzen in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. Ihr Partner ist erheblich älter, kräftig, breitschultrig, hat einen schwarzen Lockenkopf und eine entstellende Narbe vom rechten Mundwinkel die Wange hinauf. Seine rechte Hand ist verbunden.
Jetzt macht der Spieler eine Pause. Auch mein Pärchen geht an seinen Tisch zurück. Ich warte, bis sie sich setzen. Ich will sehen, ob sie zusammengehören. Die beiden nehmen an einem Tisch Platz, an dem noch zwei Männer sitzen. Einer schenkt dem Mädchen aus einer Karaffe Rotwein ein. Ein anderer zündet eine Zigarette an und schiebt sie ihr zwischen die Lippen. Sie nimmt alles hin, lächelt selig und benommen; sie scheint schon reichlich betrunken.
Ich trete zu ihr hin, klappe meinen Polizeiausweis auf und halte ihn ihr unter die Nase. »Jugendschutzstreife!«
Sie reagiert verstört. »Was? Wie?«
»Kann ich mal Ihre Papiere sehen?«
»Papiere?«
»Paß, Personalausweis, Schülerausweis, Führerschein … irgend etwas werden Sie doch bei sich haben.«
Die Kleine stößt den Stuhl nach hinten zurück und springt auf. Ich lege ihr vorsichtshalber die Hand auf den Arm.
Der Mann mit der Narbe erhebt sich langsam und drohend: »Diese Dame sein meine Braut«, erklärt er in mühsamem Deutsch und mit rollendem R. »Sie ihr lassen zufrieden, verstehn? Sie jetzt gehn ganz rasch, ja?«
»Ich bin von der Polizei«, erkläre ich und versuche meinen Worten den nötigen Nachdruck zu geben.
Aber so schnell läßt sich der Mann nicht einschüchtern. »Wir nichts verbrochen«, sagt er, »wir Auf-ent-halts-genehmigung … Ar-beits-erlaubnis … festen Wohnsitz … Ar-beits-platz …«
»Na, das ist ja wunderbar«, sage ich, »um so besser für Sie.« Ich wende mich wieder an das Mädchen. »Und wie steht es mit dir?«
»Aber ich brauche doch sowas nicht«, sagt sie mit schwerer Zunge.
»Ich muß dich bitten, mich zur Feststellung deiner Personalien aufs Revier zu begleiten.« Ich will sie mit sanfter Gewalt in Richtung Ausgang schieben.
Im gleichen Augenblick haut mir ihr Partner die Pranke auf die Schulter. Ich zucke zusammen und will den Angriff mit einem Judogriff parieren …
Aber dazu kommt es nicht mehr.
Heller greift ein. »Pfoten weg!« donnert er. »Das ist Widerstand gegen die Staatsgewalt. Sie machen sich strafbar.«
Der Mann wirbelt herum, hebt die Faust, als wollte er zuschlagen. Aber Auge in Auge mit Heller verliert er den Mut. »Polizei?« wiederholt er dümmlich.
»Das sage ich ja die ganze Zeit!« erkläre ich.
»Sie wollen doch nicht ausgewiesen werden — oder?« fragt Heller. »Also seien Sie schön brav, zeigen Sie mir Ihre Papiere!« Während der Mann noch in seinen Taschen kramt, wendet Heller sich an die beiden anderen Männer. »Und Sie auch!«
Ich führe das Mädchen nach vorn. Im Vorbeigehen greift sie nach ihrem Regenmantel.
Herr Gruhnert, der Wirt, holt Gläser aus dem heißen Wasser im Spülbecken und stellt sie zum Abtropfen mit der Öffnung nach unten auf die Theke. Ohne daß ich ihn deswegen frage, beteuert er, das Mädchen noch nie gesehen und keine Ahnung zu haben, wie sie in das Lokal gekommen ist.
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