Der Vater sah sie scharf an. Die Stirn über dem grauen Gesicht trug tiefere Runzeln als sonst: „Warum?“
Gerdas immer leicht flammende Wangen röteten sich wieder. Vielleicht darum neigte sie den Kopf und sagte bestimmt, aber auch schnell und leise, als heische ihre Behauptung kaum eine Erläuterung: „Das lässt sich fühlen, aber nicht erklären.“
„Doch! Ich kann’s erklären!“ Elisabeths Augen tanzten: „Werner war nie sehr lustig, aber der Erste, Geschickteste und Mutigste schon beim Turnen und Spielen und doch immer bescheiden. Auch heute wartete er auf den Kuss so verlegen oder befangen, als wisse er gar nicht ...“
Sie verstummte, weil der Vater die Gabel niederlegte und ihr ungläubig in die Augen sah: „Geküsst hat er dich, Elisabeth? Junge Damen lassen sich nie küssen.“
Er schlug die Finger auf den Tisch. Seine Worte klangen hart und streng. Dann schwieg er unschlüssig, denn wieder spürte er vor den Kindern das gewohnte Unbehagen der Befangenheit. Er wähnte sich zu alt, um sie wirklich zu verstehen oder ihnen nahezukommen. Gerda sah einen feuchten Schimmer in der erschrockenen Schwester Augen. Sie dachte ihr Teil an Schuld und Scheltworten auf sich zu nehmen und hob den Kopf. Die Augen konnte sie freilich nicht voll aufschlagen, und ihre Stimme war unsicher: „Papa, auch ich habe ihn zum Abschied geküsst“
Wider Erwarten schienen ihre Worte den Vater zu besänftigen. Er sprach freundlicher: „Dann ist es nicht so schlimm, mein Kind! Auch wirst du rot und scheinst dich wenigstens zu schämen!“ Er nickte. Die Küsse von zwei jungen Mädchen durften als nur verwandtschaftliche gelten. Jetzt hätte er den Töchtern gern von ihrer Zukunft und vom Heiraten gesprochen. Als erwachsene Mädchen mussten sie hören, dass Frauen zwar nicht nach Geld heiraten, aber doch Vorsicht im Verkehr mit unbegüterten Männern walten lassen sollten. Das Vermögen des Generalleutnants v. Drewitz war klein und nicht nur seines Sohnes Armut für die Töchter ein Grund, in Werner nie mehr als den Vetter zu sehen. Er räusperte sich wieder, stützte die Armgelenke auf die Tischplatte und den Rücken an die Stuhllehne.
Elisabeths Augen suchten die der Schwester. Wenn Vater es sich am Tisch bequem machte, statt nach der Mahlzeit in sein Arbeitszimmer zu gehen, hielt er gewöhnlich eine Rede. Am liebsten verglich er die alte mit der neuen Zeit. Gegenwart und Jugend schnitten dann schlecht ab, obwohl Gerda oft den Mut fand, zu widersprechen oder zu scherzen, bis der Vater zugab, auch die Jugend habe ein Recht auf eigne Gestaltung ihres Lebens. Die Ältere verstand den Blick und drehte sich nach links zum Vater: „Dürfen wir aufstehen? Es ist Zeit, auf den Bahnhof zu gehen.“
Elisabeth sprang gar schon auf die Füsse und neigte die Lippen zum Kuss auf des Vaters Wange: „Bekommen wir den Wagen?“
Er strich ihr unschlüssig über das braune Haar, denn ungern versagte er den Kindern Wünsche.
Gerda kam ihm zu Hilfe: „Elisabeth, wir müssen bis zum Frieden die Pferde schonen und unsre Räder nehmen!“
Der Vater lächelte: „Gerda, du bleibst mein Musterkind!“ Doch zog er sich Elisabeths Köpfchen näher, um einen Kuss auf ihren Mund zu drücken. Die Ältere streichelte er nur mit den Fingern, während ihre Lippen seine Wange streiften. Gerda wunderte sich nicht. Alle Menschen und Tiere, auch Tyras, die Dänin, und Ajax, der Schotte, schenkten Elisabeth mehr Liebe als ihr. —
Durch das Fenster seines Arbeitszimmers sah der Alte die Töchter aus dem Haus treten und auf ihre Räder steigen. Über den Kleidern trugen sie gestrickte Seidenjacken, die ein Gürtel über den Hüften umschnürte. Die der blonden Gerda war hellblau. Die braunhaarige Elisabeth trug leuchtendes Altgold. Auf beiden Köpfen lagen Zipfelmützchen von Farbe und Gewebe der Jacken. Allerliebst sahen die Kinder aus. Er durfte wohl stolz auf sie sein. Auch hübsch waren beide, aber verschieden, wie von Erscheinung, so auch von Art. Die schon wieder lachend scherzende Elisabeth lag beim Anfahren vornüber und hob bei einem Schwanken des Rades den rechten Arm mit dem durch die Scheiben hallenden Jauchzen eines ausgelassenen Jungen. Gerda sass mit der gemessenen Würde einer Dame auch auf dem abscheulichen Fahrzeug einer neuen Zeit. Da sausten sie aus dem Hof. — —
Auf der Landstrasse drehte Elisabeth den Kopf zur Schwester: „Papa meint es herzlich gut, aber als er jung war, muss das Leben entsetzlich langweilig gewesen sein. Warum sollen wir einen ins Feld gehenden Vetter nicht küssen?“
Gerda sah lange vor sich auf den Weg und fragte dann dringlich: „Hast du wirklich nur den Vetter geküsst?“ Sie drehte den Kopf.
In ihren grossen blauen Augen stand so banges Warten oder Zweifeln, dass Elisabeth ihren Blick mied: „Er ist doch vorläufig nur unser Vetter!“
„Vorläufig, Elisabeth? Das klingt …“
„Nein, nein, Gerdchen!“ Die Jüngere wäre fast mit dem Rade gefallen. Schnell fing sie das Gewicht des Körpers mit dem die Erde stapfenden rechten Fuss auf und stand verwirrt, während die wartende Gerda eine Kurve fuhr.
Endlich sass die Jüngere wieder auf, holte die anfahrende Schwester ein und fragte leise, fast ängstlich: „Gerüchen, glaubst du, wir könnten uns je streiten oder entzweien?“
Gerdas nachdenkliche Augen sahen geradeaus. Langsam, aber entschieden schüttelte sie den Kopf „Nein, Liebes, wir sind uns gut und wollen es bleiben. Nicht wahr?“
Da erst drehte sie wieder den Kopf zur Schwester. Ihre weisse Gesichtshaut flammte bis zum blauen Zipfelmützchen in heisser Röte.
„Gerda Drewitz, wenn du dich so malen lassen könntest! Wunderschön siehst du aus.“
Die Blonde lachte fröhlich: „Aber dich nennen alle die hübschere Schwester!“ —
Auf dem Bahnhof war mehr als sonst zu tun. Wieder rollten Truppenzüge von West nach Ost. Die Mädchen fanden keine Zeit zum Lesen der Berliner Abendblätter, die sie abends nach Gewohnheit dem Vater mitbrachten. Beim Essen las er dann den Generalstabsbericht vor und war wohl ärgerlich, wenn sie ganze Sätze schon auswendig kannten. Als er heute sein Blatt über dem Teller entfaltete, zog er mit einem Freudenruf die Töchter aus ihren Stühlen neben sich. Sein Finger deutete auf die Meldung unter der des Generalquartiermeisters:
„Eins unsrer U-Boote, Kommandant Kapitänleutnant v. Drewitz, versenkte am 3. d. M. im Ärmelmeer den englischen Kreuzer ‚Eagle‘ durch Torpedoschuss.
Der Chef des Admiralstabes.“
Lauter las er nochmals den nun auch schon von den jubelnden Mädchen gesehenen Satz und fragte feierlich, fast ergriffen: „Habt ihr gehört und verstanden?“
Sie bejahten. Wieder las er langsam Wort für Wort und warf dann den Rücken gegen die Stuhllehne und die Armgelenke auf die Tischkante, als wolle er eine seiner Reden halten. Stolze Freude erhellte das sonst strenge graue Gesicht: „Da seht ihr unsern Namen für immer mit der Geschichte auch des grössten aller Kriege verknüpft. Überhaupt der Kurt! Ich traute ihm immer mehr zu als eurem Werner!“
„Aber Papa!“ Gerda schüttelte mit unmutigem Staunen den Kopf: „Wie kannst du so reden!“
Elisabeth schmollte: „Sonst hattest du ihn doch gern!“
Der Vater vergass den Generalstabsbericht vorzulesen: „Gewiss hatte ich ihn gern, aber dass er euch küsste, gefällt mir nicht. Auch ist er seit fast drei Monaten draussen. Aber was habt ihr von ihm gehört? Kurt schrieb vor nur drei Wochen, er käme endlich an den Feind. Auf der ersten Fahrt also schickte er den Engländer zu den Fischen und schrieb unsern Namen in die Kriegsgeschichte! Das heiss’ ich einen Drewitz, einen Seemann und Soldaten, einen Offizier! Obenein erbt er später Priedelsdorf! Es wäre mir wirklich lieber, er hätte euch gek ...“ Verlegen brach er ab: „Nein, meine Kinder, das wollte ich natürlich nicht sagen. Junge Damen lassen sich nie küssen.“
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