„Bitte sich anzuziehen, Exzellenz!“
Hullmann sass am Schreibtisch nieder und beschrieb zwei Seiten eines Bogens, den er in einem Umschlag barg und dem nähertretenden Kranken reichte: „Für Ihren Hausarzt, Exzellenz. Mehr kann ich leider nicht tun.“
„Und was fehlt mir?“
Des Arztes Augen prüften das harte, graue Gesicht. Durch tiefes Schweigen im Zimmer pochte das Ticken der Wanduhr. Es schien schwer, das Behagen und die Stille im Raum zu stören.
Doch der alte Herr forschte weiter: „Ist Gefahr, dass ...“
Der Professor hob die Hand. Seine Augen blinkten. Der Mund hätte fast gelächelt. Wer durfte in der logischen Abwicklung eines natürlichen Prozesses Gefahr sehen!
„Geht es mit mir zu Ende?“
Der Arzt hob die Schultern: „Auch Exzellenz müssen einmal sterben.“
Das Ticken der Wanduhr ward Hämmern.
„Die Wahrheit, Herr Geheimrat!“
Des Arztes Augen lasen in dem harten Gesicht, der Kranke sei stark genug, sie zu hören. Seine Hand wies über die Schreibtischplatte mit den zerstreuten Papieren eines Vielbeschäftigten: „Exzellenz v. Drewitz, räumen Sie auf! Bestellen Sie Ihr Haus!“
Das scheinbar aus grauem Ton geknetete Gesicht blieb regungslos. Ohne Wimperzucken sahen Augen, blau wie die der blonden Tochter, auf den ein Todesurteil sprechenden Mund. Bald hallte über das hämmernde Ticken der Uhr flüchtiges Räuspern und eine klare Stimme: „Machen Sie uns das Vergnügen, zu Tisch zu bleiben, Herr Geheimrat?“
Der Professor sah auf die Uhr: „Verbindlichsten Dank, Exzellenz, aber wenn der Kutscher schnell fährt, kann ich den Zug 1.32 Uhr nehmen.“ Er stand auf und verabschiedete sich.
Exzellenz v. Drewitz trat mit den Hunden ans Fenster. Die Tiere hoben Köpfe und Pfoten auf das Brett. Seine Finger krauten ihr Nackenhaar. Die Augen sahen durch die Scheibe auf das welke Gelb um die Zweige der alten Ulme im Hofe. Sonst linderte das Bild sanften Blätterspiels Schmerzen und bannte Ärger, denn warm wie seine Kinder und Tiere liebte er Bäume und Blumen. Heute schien ihm der unter seinen Augen gewachsene Baum fremd. Fremd fühlte er sich auch dem eignen Körper. Nach Gutdünken oder Laune hatte er mit ihm beim Vergnügen wie bei der Arbeit geschaltet und Stolz auf die strotzende Kraft der starken Glieder gespürt. Sein Eigentum schien der Leib, und war doch nur eine geborgte Hülle, ein Lehen Gottes, ein Haus, in dem er zur Miete wohnte. Fast glaubte er sich jetzt neben dem eignen Ich. Ohne sein Wollen oder Wissen murmelten die Lippen: „Exzellenz von Drewitz, räumen Sie auf!“
Selten hatte er an den Tod gedacht und nie ihn gefürchtet. Jetzt aber kam der Wunsch zu eben, bis die Zukunft von Vaterland, Haus und Kindern nach Sieg und Frieden wieder gesichert schien. Die Kraft seines Leibes hatte ihn stets überzeugt, er werde die in später Ehe geborenen Töchter noch verheiratet sehen. Unwillkürlich trat er zurück und hob die Augen zum Bild der verstorbenen Frau. Als Polizeipräsident von Berlin hatte er Elisabeth v. d. Helle vor zweiundzwanzig Jahren geheiratet. An den Hochzeitstag mochte er auch heute nicht denken, denn am Morgen des Festes kam Nachricht vom Verschwinden seines jüngeren Bruders mit Irmgard, der Schwester Elisabeths. Alfred hatte auf Wechseln den Namen des Älteren gefälscht, flüchtete nach England und nahm Elisabeths jüngere Schwester mit. Nicht einmal verlobt war das junge Ding dem verächtlich leichtsinnigen Tunichtgut. Niemand ahnte von ihrer Liebe zu ihm. Leidenschaftliche Briefe im Schreibtisch des Mädchens erklärten ihre Flucht. Der Polizeipräsident von Berlin konnte das Geschehnis vertuschen und der Majoratsherr auf Priedelsdorf die Schulden des jüngeren Bruders bezahlen. Langwieriges Ersparen der verausgabten Summen brachte ihm den Ruf eines Geizhalses. Die üble Nachrede hatte er gleichmütig getragen. Doch nach Gram und Ärger des Hochzeitstages kam bald der Schmerz über Elisabeths plötzlichen Tod. Die geliebte junge Frau erwartete vor zwanzig Jahren hier in Priedelsdorf die Geburt ihres zweiten Kindes, als durch Schneetreiben und Sturmwehen eines düsteren Winterabends ein Wagen vorfuhr. Kaspar v. d. Helle, Elisabeths Bruder, brachte den Schrecken, der nach vorzeitiger Geburt der kleinen Elisabeth bei Tagesanbruch der Mutter Leben endete. In der Halle traf der unwillkommene Besucher den zur Jagd in Priedelsdorf weilenden Vetter Fritz Drewitz, den heutigen General, der sofort begriff, dass die Wöchnerin vom Kommen ihres Bruders nicht hören dürfe. Doch ... Elisabeth ging durch die Halle, sah Kaspar und hörte ihn sprechen. Noch immer schrillte in den Ohren der grausige Schrei, der da als letzter von ihren Lippen durch das Haus gellte.
Die Augen brannten. Er nahm den Blick vom Bild an der Wand und trat wieder ans Fenster. Seine Lippen murmelten: „Exzellenz v. Drewitz, bestellen Sie Ihr Haus!“ Es gab viel aufzuräumen.
Klug und grausam schien der Ahn, der einst zwei Söhnen allen Drewitzschen Grundbesitz in den Majoraten Priedelsdorf und Kunzenberg hinterliess. Klug war er, weil seither bis immerhin heute nur Erben seines Namens auf den Gütern sassen. Bald freilich mochten sie der Familie verlorengehen. Aus dem Chaos des Weltkrieges schien das Gespenst einer Revolution das schon siegesgewiss grinsende Antlitz zu recken. Wenn nicht ein Wunder geschah, war bald auch das geliebte alte Preussen eine Republik, denn das Königtum vergass, dass das Buch der Bücher gebot: Du sollst mit deinem Pfunde wuchern! Der Krone Pfund war die Macht. Statt wuchernd sie zu mehren, liess sie sich Lot für Lot des kostbaren Pfundes nehmen. Das Königtum kämpfte nicht mehr, sondern wich vor Angreifern zurück und war darum zum Tod verurteilt wie alles Leben, das nicht rang und kämpfte. Wohl fand die Krone noch willige Helfer und Streiter. Auch er war als Mann wie als Beamter oft für sie in die Bresche getreten, aber heute überzeugt, dass er Zeit und Kraft nutzlos vergeudet hatte. Die Tage des heiss und schwärmerisch geliebten alten Preussenstaates waren gezählt. Das schmerzte mehr als des Geheimrats Todesurteil. Wer ahnte das namenlos bittere Weh im schier zerrissenen Herzen guter Preussen? Sie wollten und mussten in Treue und Ehrfurcht ihren König lieben. Sie taten es auch und grollten ihm doch, weil er sich von Volkstribunen der Väter stolzes Erbe rauben liess. Oft drückten Gram und Schmerz darüber Wasser in die wahrlich ans Weinen nicht gewohnten Augen. Als Kinderloser schiede er gern vom Leben, ehe das neue Geschlecht den rocher de bronce zum alten Eisen warf. Doch die Töchter blieben zurück. Für sie war aufzuräumen.
Auch grausam schien der Ahn, denn wieder einmal durften die Herren beider Majorate als Väter von nur Töchtern ihren Besitz nicht Kindern und Blutserben hinterlassen. Auf Priedelsdorf zog zunächst der kinderlos bejahrte Vetter Karl v. Drewitz und nach ihm ein Neffe Kurt, der Kapitänleutnant, ein. Dem greisen Vetter Hermann v. Drewitz auf Kunzenberg hatte der Krieg beide Söhne genommen. Wenn er starb, gingen auch seine Töchter von der väterlichen Scholle. Doch war er wohlhabend auch durch Heirat mit einer begüterten Frau. Gerda und Elisabeth hatten wenig Vermögen zu erwarten. Neben dem geringen Heiratsgut der Mutter blieben ihnen des Vaters Ersparnisse von zwanzig Jahren. Gern hätte er sie darum vor dem Scheiden verheiratet gewusst.
„Zu Tisch, Papa!“ riefen sie in die Tür. Er zwang sich, heiter zu blicken, und folgte ihnen über den langen Korridor. Die Wand zur Linken trug bis zur Halle nur die eine Tür zum verschlossenen grossen Festsaal. Vor ihr fassten die Töchter des Vaters Arme mit Fragen nach dem Urteil des Arztes. Zärtlich wie selten lächelte er auf ihre Köpfe herab: „Er gibt mir noch Zeit!“
Durch eine Tür gegenüber der Holzstiege zu den Räumen im Oberstock traten sie in das eichengetäfelte Esszimmer mit rundem Tisch. Beim Löffeln der Suppe beruhigte der Vater die Töchter über sein Ergehen. Sie plauderten bald von der Begegnung mit dem Vetter. Die immer gesprächige Elisabeth schilderte mit tanzenden Augen sein gebräuntes Gesicht, das bestaubte Haar, den durchweichten, abgescheuerten Rock. Die sonst stille, ernste Gerda gönnte heute der Schwester nicht das Wort. Tief atmete sie nach langem Erzählen auf: „Männlicher sah Werner aus und trug als einer von wenigen seiner Truppe schon das Eiserne Kreuz!“ Ihre Augen suchten den Teller, und die Stimme sank: „Das war auch zu erwarten.“
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