Für die Vergleichssprachen der vorliegenden Untersuchung Deutsch und Polnisch15 sind zwei Arten von Korpora mit Wikipedia-Artikeln verfügbar, nämlich die Parallelkorpora der Korpus-Plattform OPUS (Tiedemann 201216; Wołk/Marasek 2014) mit Wikipedia-Artikel-Korpora in 20 Sprachen17 – darunter sind beispielsweise Arabisch, Russisch und Vietnamesisch sowie Englisch, Französisch, Deutsch und Polnisch – und die Vergleichskorpora des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache,18 die mit dem Deutschen in insgesamt neun Sprachversionen zur Verfügung stehen, und zwar in Englisch, Spanisch, Französisch, Italienisch, Norwegisch, Kroatisch, Ungarisch und Polnisch (Margaretha/Lüngen 201419).
Die Parallelkorpora der OPUS-Plattform basieren auf maschinellen Übersetzungen von Originaltexten in eine bzw. mehrere Zielsprachen (Wołk/ Marasek 2014) und eignen sich für Fragestellungen, die sich beispielsweise auf die Ausprägung einer sprachlichen Form bzw. Mehrworteinheit in verschiedenen Sprachsystemen befassen, z.B. wie die Konstruktion Frage stellen im Polnischen widergegeben wird und ob es unterschiedliche Übersetzungsvarianten gibt, was an den folgenden Beispielen aus Linguee demonstriert wird (Hervorhebung S.K.)20
1 Deutsch: Eine Frage stellt sich natürlich immer wieder, nämlich, ob die humanitäre Hilfe die Richtigen erreicht, und hier spielt Transparenz eine sehr wichtige Rolle.Polnisch: Oczywiście rodzi się jedno pytanie – pytanie zadawane od dawna – o to, czy pomoc humanitarna dociera do rzeczywistych odbiorców, przejrzystość odgrywa tu bardzo ważną rolę.
2 Deutsch: Wenn ihm eine Frage gestellt wird, sollte ein Präsident versuchen, sie irgendwie zu beantworten und eine mutige Entscheidung treffen: Er sollte sagen „Ich bin dafür” oder „Ich bin dagegen” und dies begründen.Polnisch: Gdy słyszy pytanie, powinien spróbować na nie odpowiedzieć i podjąć odważną decyzję: oświadczyć „Jestem za” lub „Jestem przeciw”, po czym wyjaśnić, dlaczego.
In keiner der polnischen Übersetzungen erscheint das Funktionsverbgefüge Frage stellen als Nomen-Verb-Verbindung: In (1) wird das Funktionsverbgefüge Frage stellen mit rodzić pytanie übersetzt, was wörtlich ‚eine Frage gebären‘ bedeutet (vgl. Pons online: rodzić21). In (2) wird Wenn ihm eine Frage gestellt wird mit Gdy słyszy pytanie wiedergegeben, was wörtlich ‚wenn er eine Frage hört‘ bedeutet, d.h. in Übersetzung (2) ist kein Funktionsverbgefüge vorhanden, sondern nur das Nomen Frage ‚pytanie‘. Das deutsche Funktionsverbgefüge Frage stellen kann also je nach kontextuellen Erfordernissen auch mit anderen sprachlichen Mitteln übersetzt werden (vgl. Kvam 2010: 55). In Übersetzungen kann es zudem zur Übertragung von Strukturen der Ausgangssprache auf die Zielsprache als Shining-through-Effekte kommen (Teich 2003: 61; Hansen 2006: 115), was sich auf Untersuchungsergebnisse auswirken kann. Die Wikipedia-Übersetzungsmaschine der OPUS-Plattform wird außerdem von den Entwicklern als weiter verbesserungsfähig im Vergleich mit menschlichen Übersetzungen eingestuft (Wołk/ Marasek 2014: 131), was auf zusätzliche Fehlerquellen schließen lässt. Da in der vorliegenden Arbeit deutsche und polnische Funktionsverbgefüge auf systematisierbare Funktionen im Textzusammenhang im jeweiligen sprachlichen Einzelsystem untersucht werden, wären mögliche Übersetzungsvarianten, Shining-through-Effekte sowie maschinelle Übersetzungsfehler Störfaktoren in der Untersuchung, sodass ich mich für die Zwecke der vorliegenden Arbeit für Vergleichskorpora entscheide.
Bei Vergleichskorpora handelt es sich um Sammlungen von Originaltexten in verschiedenen Sprachen zu „einem vergleichbaren Diskursbereich“ (Lemnitzer/ Zinsmeister 2015: 138), d.h. zu einem gemeinsamen Thema bzw. zu einer Textsorte, wie z.B. einem deutschen (Wikipedia: Krim22) und einem polnischen Original-Artikel zur Krim (Wikipedia: Krym23), die keine Übersetzungen voneinander sind und (vermutlich) von unterschiedlichen menschlichen – und ausdrücklich nicht maschinellen – Textproduzenten und -produzentinnen verfasst wurden.24 Da ich an natürlicher und von anderen Sprachen unabhängiger Sprachproduktion interessiert bin, fällt die Wahl für die Untersuchung von deutschen und polnischen Funktionsverbgefügen im Textzusammenhang auf die Wikipedia-Vergleichskorpora des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache, die in weitere Subkorpora,25 z.B. nach ihrem Entstehungsjahr unterteilt werden (COSMAS II: Wikipedia-Korpora26). Das deutsche Wikipedia-Artikelkorpus existiert zum Zeitpunkt der Datenerhebung (Mai bis November 2018) in den Versionen der Entstehungsjahre 2013, 2015 und 2017. Das polnische Subkorpus ist zum Erhebungszeitpunkt jedoch nur in den Versionen aus den Jahren 2013 und 2015 verfügbar, sodass für die zeitliche Konsistenz der Datengrundlage die Wikipedia-Subkorpora aus dem Jahr 2015 für beide Sprachen ausgewählt wurden (vgl. Kupietz et al. 2018). Das deutsche Wikipedia-Artikel-Korpus (WPD15) setzt sich aus 1 802 682 Texten und 824 692 227 Textwörtern zusammen, das polnische Korpus (WPP15) enthält 1 105 401 Texte und 282 995 410 Textwörter. Das polnische Wikipedia-Korpus ist demzufolge deutlich kleiner als das deutsche, was in Bezug auf die quantitativen und qualitativen Ergebnisse der Ergebnisse zu berücksichtigen ist.
Als Datengrundlage für die Untersuchung der Funktionsverbgefüge Frage stellen , Antwort geben und Entscheidung treffen sowie der polnischen Äquivalente wurden die Wikipedia-Artikel-Korpora des IDS aus dem Entstehungsjahr 2015 ausgewählt. Wikipedia-Artikel eignen sich für die vorliegende Untersuchung von Funktionsverbgefügen im Textzusammenhang, weil die Artikel auf linguistischen Konzepten zur Verständlichkeit von Texten basieren. Im nächsten Abschnitt gehe ich auf die weitere Vorgehensweise bei der Datenerhebung sowie die Analysemethoden der vorliegenden Arbeit ein.
2.3. Datenerhebung und Vorgehensweise
Die Funktionsverbgefüge Frage stellen , Antwort geben und Entscheidung treffen sowie ihre polnischen Äquivalente zada(wa)ć pytanie , da(wa)ć odpowiedź und podjąć/podejmować decyzję werden in der vorliegenden Arbeit auf ihre Leistungen im Textzusammenhang untersucht. Für die Untersuchung dieser Konstruktionen wurden als Datengrundlage die deutschen und polnischen Wikipedia-Artikel-Korpora (WPD15, WPP15) des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache ausgewählt, aus denen ein geeigneter Datensatz sowie -menge extrahiert wurde. Im Folgenden wird die Vorgehensweise bei der Erhebung sowie der Analyse der Daten vorgestellt.
Für die Untersuchung von textuellen Leistungen von Funktionsverbgefügen wurde der korpusbasierte, quantitativ-qualitative Ansatz nach Lemnitzer/Zinsmeister (2015) herangezogen. Die Daten werden diesem Ansatz nach quantifiziert, aber in weiteren Schritten auch qualitativ und im Sinne des Kontextualismus analysiert (Wittgenstein 1967, Firth 1968). Der Kontextualismus untersucht sprachliche Einheiten auf ihre Funktionen im Kontext (Lemnitzer/ Zinsmeister 2015: 30)1 und versteht sich als Gebrauchsorientierte Theorie der Bedeutung, denn „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (Wittgenstein 1967: 43) oder „You shall know a word by the company it keeps.“ (Firth 1968b: 179). Mit diesem Ansatz werden Mehrworteinheiten, wie und er (‚Kollokationen‘ nach Lemnitzer/Zinsmeister 2015: 32; Hervorhebung S.K.) und Antrag stellen (‚Kolligationen‘ nach Lemnitzer/Zinsmeister 2015: 32, ‚Funktionsverbgefüge‘ nach Kamber 2008: 22), im „rohen“ und nicht vorannotierten bzw. getaggten Korpus auf ihren Gebrauch im Kontext analysiert und gehören nach Lemnitzer/Zinsmeister (2015) zum Hauptuntersuchungsschwerpunkt des Kontextualismus (Lemnitzer/ Zinsmeister 2015: 32ff.; Bsp. aus Lemnitzer/ Zinsmeister 2015: 32; Hervorhebung S.K.). Für die Untersuchung von Funktionsverbgefügen auf ihre Funktionen im Textzusammenhang, d.h. als „Paare sprachlicher Einheiten […], deren Zusammenhang durch die Bezeichnung ihrer syntaktischen Kategorie und der Beziehungen zwischen diesen Kategorien weiter qualifiziert ist“ (Lemnitzer/ Zinsmeister 2015: 32) erscheint der korpusbasierte quantitativ-qualitative Ansatz nach Lemnitzer/Zinsmeister (2015) als geeignet. Zwei Einschränkungen werden in Bezug auf diese Untersuchungsmethode vorgenommen: Erstens wird nicht die gesamte Anzahl an absoluten Treffern im Korpus untersucht, sondern lediglich eine im quantitativen Sinn geeignete Auswahl an Treffern als Zufallsstichprobe. Und zweitens analysiere ich die Daten nicht ausschließlich induktiv, sondern leite auf der Basis der Forschungsliteratur zu Funktionsverbgefügen ein Annotationsschema in Form eines Kategoriensets ab (s. Kap. 3), das anschließend induktiv erweitert wird, d.h. es werden deduktive mit induktiven Analysemethoden kombiniert (vgl. Meindl 2011: 27f.).
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