Max zog sich fröstelnd die Decke über die Schultern. War es wirklich erst zwei Tage her, dass er von den beiden schweigenden Männern zum Kennedy Airport eskortiert worden war? Zwei Tage, seit er es sich in seinem Flugsessel bequem gemacht und diese neue Empfindung verspürt hatte, als die Maschine über die Startbahn rollte? Er war von einem merkwürdigen Freiheitsgefühl ergriffen worden, das selbst jenes von vor fünfundvierzig Jahren in den Schatten stellte, als er mit leeren Händen an der Reling des amerikanisches Schiffes stand, das ihn aus Schweden fortbrachte. Damals war ihm das große Land jenseits des Atlantiks als einzig möglicher Zufluchtsort für einen jungen Mann erschienen, der vor abscheulichen Umständen hatte fliehen müssen. Nun, fast ein halbes Jahrhundert später, schien ihm sein altes Heimatland als einzig verlockendes Refugium für einen müden, gealterten Mann, der sich immer noch auf der Flucht befand. Aber es war anders gekommen, als er es sich vorgestellt hatte. Würde er jemals irgendwo Ruhe finden?
Am Skogsduvestigen in Malmö, im Stadtteil Söderkulla, befand sich eine Reihe kleinerer Backsteinhäuser mit zugehörigen Gärten. Eines von ihnen wurde von Birger Rösling samt Familie bewohnt.
An diesem Donnerstagabend, der so zu werden versprach wie alle anderen, betrat er nach einem harten Arbeitstag sein Wohnzimmer und machte es sich in einem ochsenblutfarbenen Fernsehsessel bequem. Nachdem er sich seiner Schuhe entledigt und seine tauben Füße auf den Schemel gebettet hatte, stieß er einen wohligen Seufzer aus.
Erst nach diesen Vorbereitungen ließ er die Maske fallen. Das heißt, er schloss die Augen und legte sein Arbeitsgesicht ab. Das freundlich entgegenkommende, das sachkundige und zuverlässige, nicht zuletzt das, welches für eine Vertrauen erweckende Intelligenz bürgte. Mit vollkommen leerer und friedfertiger Miene streckte er sich nach der Fernbedienung und begann sich durch die fünfundzwanzig Fernsehkanäle zu zappen. Er war hungrig, und da seine Frau gerade das Abendessen zubereitete, brauchte er nur zu warten.
In der Küche war Gunnel Rösling vollauf damit beschäftigt, Zwiebeln zu schälen, Hackfleisch zu braten, Tomaten zu schneiden und Teller aus dem Schrank zu holen, während sie den Küchenfernseher, in dem gerade eine Quizshow lief, nicht aus den Augen ließ. Wie üblich wusste sie die Antworten, noch ehe die Kandidaten auf den Knopf drücken konnten. Ihre Auffassungsgabe und Reaktionsschnelligkeit waren außerordentlich. Eine Tatsache, die besonders im Vergleich zu ihrem Ehemann auffiel. Sie wusste meist schon, was er sagen wollte, bevor er den Mund öffnete. Vielleicht tat er es deshalb so selten.
Dann gab es noch ihren achtzehnjährigen Sohn Linus, der gerade in seinem Zimmer vor dem Computer saß. Wie seine Mutter besaß er eine ungewöhnlich rasche Auffassungsgabe, und wie sein Vater war er ziemlich hungrig. Während er auf den erlösenden Ruf aus der Küche wartete, testete er zerstreut eine brandneue Demoversion von Duke Nuk’em.
Strategisch im Zentrum, also im Eingangbereich des Hauses, lag ein in die Jahre gekommener schwerhöriger Labrador, der hin und wieder auf den Namen Sessan hörte. Im Kreuzfeuer der drei lärmenden Geräuschquellen genoss er einen tiefen, ungestörten Schlaf.
Da klingelte es an der Tür.
Weder den Hund noch Birger oder seine Frau schien dies zu kümmern. Alle Erfahrung sprach dafür, dass ein Besuch zu dieser Zeit nur Linus gelten konnte.
»Linus, es klingelt!«, rief sein Vater aus dem Wohnzimmer.
Als nichts geschah, rief seine Mutter aus der Küche, diesmal noch lauter: »Linus! Hörst du nicht? Mach doch die Tür auf!«
Linus ging zur Haustür und öffnete sie.
Nach weniger als einer halben Minute stand er auf der Schwelle zum Wohnzimmer. »Da ist ein alter Mann, der nach dir fragt.«
Birger hob die Augenbrauen. »Ein alter Mann? Hat er gesagt, was er von mir will?«
»Nee.«
Birger erhob sich ächzend aus seinem Sessel und bemühte sich, während er auf Socken die Haustür ansteuerte, um einen angemessenen Gesichtsausdruck: nicht direkt unfreundlich, doch auch nicht zu entgegenkommend.
Draußen stand tatsächlich ein Mann mit Plastiktüte und dümmlichem Lächeln.
»Hallo, Birger! Du erkennst mich vermutlich nicht, es ist ja schon einige Jahre her. Ich bin Max, dein Halbbruder.«
Der erste Gedanke, der dem verdutzten Birger durch den Kopf schoss, war: Lebt der immer noch? Doch natürlich ließ er sich seine Verblüffung nicht anmerken.
»Ach . . .«, sagte er stattdessen.
»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen – ich dachte mir, es wäre schön, dich nach all den Jahren wiederzusehen. Du siehst gut aus. Man will doch seine . . . relatives sehen nach so langer Zeit.«
Birgers zweiter Gedanke war: Verdammt! Dann hatte er den ersten Schock verdaut, trat zur Seite und bemühte sich um die unverbindliche Freundlichkeit, die zu seinen beruflichen Fertigkeiten gehörte.
»Was für eine Überraschung. Komm doch herein.«
Der plötzlich auferstandene Bruder ging rasch an ihm vorbei in die Diele und schaute sich um. »Ein schönes Haus hast du. War das dein Junge, der mir aufgemacht hat?«
»Ja, er heißt Linus.«
»Tja, wie die Zeit vergeht.«
Birger warf einen Blick auf die Plastiktüte. »Kommst du direkt aus Amerika?«
Max begann sich den Mantel auszuziehen. »Nein, nicht direkt – ich bin seit einer Woche hier. Wollte mich schon früher bei dir melden, aber ich hatte eine Erkältung und musste für ein paar Tage das Bett hüten. Ist ja ganz schön kalt für die Jahreszeit.«
Birger nahm ihm den Mantel ab und bemerkte, dass Max gar nicht so betagt aussah, wie er anfangs hatte glauben wollen. Wie alt mochte er sein? Mindestens siebzig. In diesem Fall war er gut in Schuss. Fast zwei Meter groß und robust gebaut, mit vollem Haar und frischer Gesichtsfarbe. Sorgfältig gekleidet war er auch.
»Ja, für April ist es ziemlich kalt«, sagte er. »Wohnst du hier in Malmö?«
»Ich habe mich in einem kleinen Hotel in der Norra Vallgata eingemietet.«
»Komm rein und setz dich«, sagte Birger. »Du musst nur auf die Hündin Acht geben. Sie ist schon alt und bewegt sich nicht mehr vom Fleck.« Er führte ihn ins Wohnzimmer, stellte den Fernseher aus und ließ seinen Gast auf dem Sofa Platz nehmen.
»Besuchst du also mal wieder deine alte Heimat. Wie lange willst du bleiben?«
»Ich werde nicht zurückfliegen. Ich bleibe hier.«
»Was du nicht sagst«, entgegnete Birger, dachte jedoch im Stillen: Herrgott, was kommt da auf uns zu?
Der andere lächelte schwermütig. »Man wird schließlich nicht jünger – ich dachte mir, es wäre an der Zeit, meine schwedische Rente in Anspruch zu nehmen.«
»Ach so . . .«
»Obwohl ich mich noch nicht entschieden habe, wo ich wohnen will. Werde mich wohl erst mal ein wenig umsehen.«
Birger blieb unschlüssig stehen und dachte wehmütig an den verdorbenen Fernsehabend. Dies war sicherlich keine Stippvisite. Vermutlich würden sie gar gezwungen sein, Max zum Abendessen einzuladen. Eigentlich sollte er voller Neugier sein und den überraschenden Besuch seines Halbbruders aus Amerika als willkommene Abwechslung begrüßen, aber dem war nicht so. Stattdessen verspürte er eine unbestimmte Unruhe. Irgendetwas sagte ihm, dass es Probleme geben würde.
»Das ist sehr lange her . . .«, sagte er zögerlich. »War das nicht irgendwann in den Fünfzigern?«
»’52. An Neujahr. Du warst damals erst acht. Vielleicht erinnerst du dich gar nicht mehr an mich.«
»Doch, doch – obwohl die Erinnerungen an diese Zeit sehr verblasst sind«, entgegnete Birger vorsichtig.
»Ich kann mich jedenfalls daran erinnern, dass du ein netter, bescheidener Junge warst. Ich mochte dich stets lieber als deinen Bruder. Mit Leif war es nicht so einfach.«
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