Dr. med. Karim El Souessi
Die Angst vor dem Tod überwinden
Dr. med. Karim El Souessi
DIE ANGST VOR DEM TOD ÜBERWINDEN
Sterbemeditation und Sterbebegleitung
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Für meine Frau Verena und meine Kinder Elia und Susanna
UNA EX HIS TUA ERIT.
„Eine dieser Stunden wird deine sein.“
Abb. 1: Astronomische Uhr in Prag aus dem Jahr 1410
„Nur das Grab wartet auf uns.”
ZEN-MEISTER KÔDÔ SAWAKI
SELBSTBETRACHTUNG
Die Zeit ist ein Fluss,
ein ungestümer Strom,
der alles fortreißt, jegliches Ding,
nachdem es zum Vorschein gekommen,
ist auch schon wieder fortgerissen,
ein anderes wird herbeigetragen,
aber auch das
wird bald wieder verschwinden.
MARC AUREL: SELBSTBETRACHTUNGEN 43, 4. BUCH
HERBSTGEDICHT
Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.
Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.
Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.
Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.
RAINER MARIA RILKE: HERBST
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. „Kein Selbst, keine Probleme“
2. Sterben als physischer Prozess
3. Sterben als transpersonaler Prozess
4. Andere werden älter – ich nicht
5. Altern beginnt früher, als man denkt
6. Sich sterblich erfahren und neu leben lernen
7. Wie sollten wir leben, um nichts versäumt zu haben?
8. Der Umgang mit der eigenen Sterblichkeit
9. Im Jetzt leben, was heißt das?
10. Was ist wichtig im Leben?
11. Yoga Nidra
Übung: Yoga-Nidra-Visualisierung
12. Sterbemeditation, Sterbeprozess und die Angst vor dem Tod
Übung: Sich Vergänglichkeit bewusstmachen
13. Jenseitskontakte, Erscheinungen, Nahtod und Wiedergeburt
14. Sterben und Sterbebegleitung aus tibetisch-buddhistischer Sicht
15. Visualisierung der eigenen Sterblichkeit – Vier Übungen
1. Übung: Loslassen und Vergebung
2. Übung: Begegnung mit dem Tod
3. Übung: Reinigung – Distanzierung: „Aufstieg“
4. Übung: Begegnung mit dem eigenen Sterben
16. Wer bin ich?
17. Hilfen für Sterbende und Trauernde, Umgang mit Sterbenden und Trauernden
18. Rituale und Abschiednehmen am Sterbebett und danach
19. Auch der Helfer braucht Hilfe
20. Vom Trauerfall zur Beerdigung
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Bildnachweise
Literaturempfehlungen zum Umgang mit dem Sterben
Adressen zur Sterbebegleitung
Weitere Veröffentlichungen des Autors
„Da gibt es welche, die sich über das Sterben Sorgen machen. Ich sage: ‚Keine Angst – du stirbst schon!’“ 1
In Platons „Phaidon“ sagt Sokrates: „Wahre Philosophen machen Tod und Sterben zu ihrem Beruf.“ Sokrates meinte damit, dass wir mit jedem Atemzug und in jedem Augenblick das Sterben üben sollten. 2Aus diesem Grund tragen tibetische Mönche unter ihrer Kutte eine ‚Weste der Vergänglichkeit’ mit zwei spitz zulaufenden Streifen, die sich bei den Achselhöhlen kreuzen. Die Streifen stellen die Fänge des ‚Herrn des Todes’ dar, die Mitte der Weste ist sein Mund. Jeden Tag soll der Mönch sich beim Ankleiden bewusstmachen, dass er in jedem Augenblick dem Tod ausgesetzt ist. 3Ähnlich äußert sich die psychisch kranke italienische Dichterin Alda Merini (1931-2009): „La preparazione alla morte dura una vita intera“ – Die Vorbereitung auf den Tod dauert ein ganzes Leben. 4
Als Autor dieses Buchs bitte ich meine Leser und Leserinnen um eine gewisse Offenheit dafür, den Sterbeprozess nicht nur als materiellen Vorgang zu begreifen, sondern die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass es ein Bewusstsein gibt, das nicht an körperliche Grenzen gebunden ist, das über die personenbezogene Bewusstheit, ausgedrückt in Gedanken, Erinnerungen, Bildern, Gefühlen, Körperempfindungen und Verhaltensweisen, hinausreicht. Sowohl der Philosoph G.F.W. Hegel als auch der zeitgenössische Ganzheitsphilosoph Ken Wilber bezeichnen dieses allumfassende Bewusstsein als Geist. Im Sanskrit gibt es dafür den Begriff Dharmakaya, die ursprüngliche erleuchtete Natur des Geistes selbst. Seine Natur ist ungeboren und todlos, offen und weit, ohne Zentrum und ohne Begrenzung. Der Buddhismus verwendet dafür den Begriff ‚Leerheit’, die überall ist und jede vergängliche Form durchdringt, aus der durch kosmische bzw. energetische ‚Verdichtung’ Formen entstehen. Aber auch der Begriff der Leerheit ist komplex, problematisch und kann irreführend sein. 5Auch Bezeichnungen wie Gott, Jahwe (jüdisch für ‚unaussprechlicher Name’), Wakan Tanka, Tao, Allah sind nur weitere Begrifflichkeiten, die alle auf etwas Nicht-Begriffliches, Unbegreifbares hinweisen.
Sterbemeditation soll die Kunst des Sterbens, die ars moriendi, wieder mehr ins Bewusstsein bringen, wie dies in den letzten Jahren mit der Hospizbewegung mehr und mehr geschehen ist. Auch in der Psychotherapie sind Richtungen wie die Psychoonkologie entstanden, die das Sterben bewusst mit einbeziehen. Der bekannte Psychotherapeut Irvin D. Yalom ist einer von vielen, die die Vergänglichkeit zum Gegenstand des therapeutischen Prozesses machen. „Lebe immer mit dem Tod auf der linken Schulter“ ist beispielsweise eine seiner Hinweise, um der Vergänglichkeit in der Arbeit mit seinen Patienten mehr Raum zu geben. 6Etwas ironisch behauptet der Autor Tizio Terzani 7, der einen Bericht über seinen Weg hin zum Sterben verfasst hat, dass die eigentliche Krankheit – hinter den mehr als 40.000 beschreibbaren Krankheiten – die Sterblichkeit ist. Statt zu hoffen, dass im Sterbeprozess der Tod möglichst rasch kommt und alles schnell vorbei ist, wollen wir mit diesem Buch alte Wege neu beschreiten. Den Tod könnte man auch als Höhepunkt des Lebens begreifen, als kunstvolle Wende oder Übergang, als Heraustreten aus dem Irdischen oder, wie der französisch-indische Mystiker Henri Le Saux (bekannt als Abhishiktananda, 1910-1973) meinte, als eine Befreiung von irdischen Ketten. Sterbemeditation ermöglicht uns eine bessere Vorbereitung und eine positivere Haltung zum Sterben. Statt den Tod auszuklammern und zu verdrängen, beziehen wir ihn in unser Leben ein. Sind wir nicht bereits mit der Geburt Sterbende?
Das Buch beinhaltet nicht nur Reflexionen über den Tod und das Sterben, sondern auch praktische Hilfestellung im Umgang mit Sterbenden für ihre Angehörigen und Freunde. Sich in die Rolle eines Sterbenden zu versetzen und zu überlegen, wie man selbst behandelt werden möchte, kann helfen, eine bessere Sterbebegleitung anzubieten.
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