»Wir müssen doch mit jemandem reden, der sich mit Erbrecht auskennt«, sagte Max.
Gunnel betrachtete ihren Mann und sagte nachdenklich: »Birger kennt einen Juristen, der für eine Versicherungsgesellschaft arbeitet. Wie hieß der noch gleich, dieser nette Kerl?«
Birger sah sich zu entschiedenem Protest veranlasst: »Der hat doch nur mit Versicherungen zu tun. Außerdem wird er gar keine Zeit haben.«
»Wenn er Jurist ist, dann wird er auch was vom Erbrecht verstehen«, entschied Gunnel. »Und es kann ja wohl nicht so viel Zeit in Anspruch nehmen, uns ein paar Informationen zu geben. Ich finde, du solltest ihn anrufen, und zwar jetzt gleich.«
»Jetzt gleich?«
»Ja, warum nicht? Es ist doch erst acht Uhr. Und vergiss nicht, dir einen Termin für uns geben zu lassen.«
Sie schauten ihn auffordernd an; alle eventuellen Einwände erstarben auf seinen Lippen.
Mit einem unterdrückten Seufzer stand er auf und rief Olle Linder an.
Nach einer langen Diskussion über den Brandschaden an einer Maschine kämpfte sich Olle Linder durch den dichten Verkehr ins Zentrum von Malmö zurück. Eine Verabredung zum Mittagessen im Restaurant Casa Mia war der nächste Punkt auf der Tagesordnung. Eigentlich war er nicht in der richtigen Stimmung dafür. Seine Laune verlangte eher nach einer einsamen Insel oder zumindest der Einsamkeit hinter einer verschlossenen Tür.
Die allgemeinen Auflösungserscheinungen in seinem Inneren ließen keinen Platz für versöhnliche Gedanken. Sein Leben zerbrach, soweit etwas zerbrechen konnte, das nie heil gewesen war. Wie üblich wurde er von allen Seiten belagert und um Hilfe und Unterstützung gebeten. Und wie üblich sauste er unermüdlich durch die Gegend, um aller Welt zu Diensten zu sein. Aber wie sehr er sich auch abmühte, so war die Welt doch nie zufrieden und stellte ständig weitere Forderungen.
Gerade eben hatte ihn seine Exfrau auf dem Handy angerufen und ihn daran erinnert, dass ihre Tochter morgen ihren neunzehnten Geburtstag feierte. Was bedeutete, dass er sich schon heute irgendwann eine halbe Stunde freinehmen musste, um ein passendes Geschenk zu besorgen. Wo er diese halbe Stunde hernehmen und wie das Geschenk aussehen sollte, stand in den Sternen. Kurz zuvor hatte sich seine Mutter gemeldet, um ihm mitzuteilen, dass sie für heute Abend Onkel Todde und Tante Ester eingeladen hatte, damit er sich endlich um ihr Testament kümmern könne, was er schon seit Jahren versprochen habe. Die Sache ließe sich nicht länger aufschieben, da sie steinalt seien und jeder Tag ihr letzter sein könne.
Und dann noch das letzte Telefongespräch mit Kajsa, das einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen hatte. Das Einzige, das sich über den gegenwärtigen Zustand ihrer Ehe sagen ließ, war, dass sie vermutlich keine Zukunft hatte. Zumindest ein Punkt, in dem sie sich einig waren. Ihr Umgangston war spröde und kalt gewesen. Ihren Kontakt hielten sie am Telefon notdürftig aufrecht. Lange, trostlose Gespräche oder endlose Debatten, in denen keiner sein Gesicht verlieren wollte. Heute war es um die Scheidung gegangen.
Er hatte die letzte Nacht kaum ein Auge zugemacht. Sie konnte zur Hölle fahren mit ihren ewigen Beschuldigungen und ihren unmäßigen Ansprüchen. Wenn sie ihn nicht so nehmen wollte, wie er war, sollte sie sich eben auf die Suche nach ihrem Märchenprinzen machen, der ihre naiven Visionen teilte. Zum Teufel mit einer Frau, die einen ständig erziehen wollte. . .
Doch eigentlich hatte er Angst. Große Angst. Im Grunde wollte er sie um keinen Preis verlieren. Natürlich hatten sie sich bei ihren Auseinandersetzungen auch immer wieder über eine mögliche Scheidung unterhalten – so oft, dass er diese Möglichkeit schließlich ernsthaft in Betracht zog. Es gehörte irgendwie dazu, den anderen an einem gewissen Punkt mit der ultimativen Drohung zu konfrontieren; das Signal, dass ihre Beziehung den Tiefststand erreicht hatte. Später schlug dann meist die Stunde der Besinnung und Versöhnung. Doch diesmal war es anders gewesen. Es hatte ein ungewöhnlich scharfer und desillusionierter Ton geherrscht – zumindest von ihrer Seite aus.
Um seinem Herzen ein wenig Luft zu machen, beschimpfte er die Ampeln, die mit perfider Präzision jedes Mal auf Rot schalteten, wenn er sie erreicht hatte. Er hatte einen Mordshunger. Außerdem sollte er für eine warme Mahlzeit wieder mal die Probleme anderer Leute lösen, als hätte er selbst nicht schon genug um die Ohren.
Ansonsten hatte er nichts dagegen, dem rücksichtsvollen Fernsehhändler einen Rat zu geben. Er wartete vielmehr auf eine Gelegenheit, sich für Birger Röslings beharrliche, manchmal beinah lästige Großzügigkeit zu revanchieren.
Sie hatten sich vor zwei Jahren kennen gelernt.
Der Mediaring war ein Großkunde ihrer Versicherungsgesellschaft, und in die Filiale in der Amiralsgata, die von Birger Rösling geleitet wurde, war gerade eingebrochen worden. Während sich Olle mit der Schadensregulierung befasste, war ihm der Name Rösling aufgefallen. Und als Birger begriff, dass Olle und seine Frau ein zu Röshult gehörendes Sommerhaus zu mieten pflegten, bestätigte er, dass Leif Rösling sein älterer Bruder und der Hof Röshult sein Elternhaus war. Olle war erstaunt, wie verschieden die Brüder waren. Birger Rösling schien ein stiller, schüchterner Mann zu sein, hoch aufgeschossen, mit beginnender Glatze. Seine Augen hinter den Brillengläsern machten einen intelligenten, wenn auch ein wenig zaghaften Eindruck. Leif dagegen war ein schwarzhaariger Hüne mit fast animalischer Ausstrahlung.
Die an sich unbedeutende Begegnung mit dem Bruder von Leif Rösling zog weitere Gespräche nach sich, und als sie entdeckten, dass sie ein leidvolles Interesse an klassischer Musik teilten und Olle in freien Stunden außerdem noch Geige spielte, war der Fernsehhändler hellauf begeistert. Als ihm ferner klar wurde, dass Olles Möglichkeiten, die großen Werke auf CD zu genießen, aufgrund seiner veralteten Anlage sehr begrenzt waren, hatte er ihm uneigennützig äußerst günstige Rabatte für eine exzellente Hi-Fi-Anlage angeboten. So günstig, dass Olle angesichts seiner Position als Jurist einer Versicherungsgesellschaft ein wenig nervös wurde. Doch Birger wickelte das Geschäft so ordentlich und seriös ab, dass nicht einmal Olles sensibilisiertes Gewissen daran Anstoß nehmen konnte.
Ein paar Monate später, als Olle schon keinen Gedanken mehr an ihre Begegnung verschwendete, hatte der freundliche Fernsehhändler sich abermals in Erinnerung gebracht. Eines Tages rief er einfach an, um Olle zu fragen, ob dieser mit ihm ein Konzert besuchen wolle. Olle, der es nicht gewohnt war, von fremden Männern eingeladen zu werden, war überrascht und misstrauisch. Er bemühte sich um eine Ausrede, doch als der andere ängstlich versicherte, er habe eigentlich mit seiner Frau gehen wollen, der etwas dazwischengekommen sei, ließ er sich darauf ein.
Der Fernsehhändler benahm sich tadellos, das heißt, er schwieg während des Konzerts und versuchte nicht, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das Malmöer Symphonieorchester spielte als Höhepunkt des Abends die Zweite Symphonie von Gustav Mahler. Wie zu erwarten, wurde es eine glänzende Aufführung, und Olle hatte rasch vergessen, in wessen Begleitung er sich befand.
Nach dem Konzert wollte Birger ihn noch auf ein Bier einladen, und während sie an dem kühlen Herbstabend dem Zentrum entgegenschlenderten, beichtete er zu Olles Schrecken den wahren Sachverhalt. Zunächst räumte er ein, gelogen zu haben. Die zweite Eintrittskarte war niemals für seine Frau vorgesehen gewesen, die sich keinen Deut für klassische Musik interessierte. Die Sache sei die, erklärte er mit verlegenem Lachen, dass er so verflucht einsam sei. An Gesellschaft mangele es ihm zwar nicht – er sei stets von Frau und Sohn, Bekannten und Kollegen umgeben –, doch habe er nie jemanden gefunden, der das Gefühl der Einsamkeit verdrängt hätte. Er meinte, das läge daran, dass ihn niemand so sähe, wie er wirklich sei. Doch wer er sei, wisse er selbst nicht. Im Grunde wäre es nicht seine Art, solcherart die Initiative zu ergreifen – er könne auch nicht erklären, warum er es getan habe –, doch empfinde er für Olle unumwunden Sympathie. Vielleicht habe es an der Musik gelegen – er wisse es nicht –, doch habe er einfach Kontakt aufnehmen müssen.
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