1 ...8 9 10 12 13 14 ...34 Danach waren sie zu ihrem möblierten Zimmer gegangen, um das zu vollenden, was sie im Park begonnen hatten. Und immer noch glaubte sie, die Liebe sei eine unkomplizierte Sache, die nur sie und ihn etwas anginge.
Doch sehr bald – tatsächlich schon am nächsten Tag – wurden ihr einige unumstößliche Tatsachen bewusst, denn dieser einsame Mann, der ihren Weg gekreuzt hatte, war alles andere als das.
Es hätte sie im Grunde nicht schockieren dürfen, dass er innerhalb einer komplexen Struktur lebte, in der seine Frau, zwei Kinder, ein Meerschweinchen und das hypothekenbelastete Haus das Zentrum bildeten – um das wiederum eine despotische Mutter, kleinkarierte Schwiegereltern, Verwandte und Freunde wie Planeten ihre unabänderlichen Bahnen zogen. Die ganze empfindliche Konstellation würde ins Wanken geraten und wie ein zweiter Turm zu Babel mit ohrenbetäubendem Lärm einstürzen, wenn sie ihn an sich zog.
Kein Wunder, dass ihr im Nachhinein das Herz in die Hose rutschte und sie das Feld räumen wollte. In Wahrheit wollten beide das Feld räumen, doch niemals gleichzeitig. Daher wechselten sie sich damit ab, dem anderen einen gehörigen Schrecken einzujagen.
Während sie sich ihren wechselnden Fluchtversuchen und stürmischen Versöhnungsszenen hingaben, begann ihr Turm zu Babel wirklich in den Fugen zu ächzen. Doch er stürzte nicht ein, stattdessen wurden in aller Stille gewisse Umbauarbeiten und Verstärkungen vorgenommen. Und als schließlich der glückliche Tag kam, an dem sie einander das Ja-Wort gaben und den widerwilligen Segen der Umwelt erhielten, da stand er so stabil wie eh und je. Kajsa hatte das Gefühl, nicht nur Olle geheiratet zu haben, sondern auch seine frühere Familie, seine Mutter, seine ganze große Verwandtschaft und all seine Freunde.
Doch wäre es kleinlich von ihr gewesen, sich daran zu stören, da sie doch so glücklich, ihr Wunschkind bereits unterwegs und Olle ein so wunderbarer Mann war.
Damals verfügte sie ja schon über ein gewisses Maß an Menschenkenntnis und verlor nicht gleich die Fassung, wenn jemand vollkommen unerwartete Seiten offenbarte. Davon musste man ihrer Meinung nach sogar ausgehen, da der Mensch nun einmal ein kompliziertes Wesen mit einer empfindsamen Seele war. Auch geriet sie nicht umgehend in Panik, als Olle die Lust verlor, ihr göttliche Eigenschaften zuzusprechen. Sie schlug erst an jenem Tag hart in der Wirklichkeit auf, als sie zu der Einsicht gelangte, dass der faszinierende Mann mit der berückenden Tiefe sich auf rätselhafte Weise in einen überarbeiteten und mürrischen Versicherungsangestellten verwandelt hatte, der zu Furchtsamkeit und Pedanterie neigte.
So fiel es ihr nach und nach wie Schuppen von den Augen, dass sie mit einem Mann verheiratet war, der in einer völlig anderen Welt lebte als sie. In einer hektischen Welt ohne jeden Freiraum, die ihr keine Luft zum Atmen ließ. Und ausgerechnet sie hatte den gehetzten Blick in seinen schönen Augen vertreiben, hatte den gespannten Zug um seinen Mund einfach wegküssen wollen – Dinge, die auf so irritierende Weise den Blick auf seine wirklichen Qualitäten verstellten. Durch ihre Existenz hatte sie die Summe seiner Verpflichtungen gar noch erhöht und sich darüber hinaus in sein Verantwortungsgebiet eingemischt.
Vielleicht hätten sie auch diese Krise gemeistert, wenn sie nur in aller Ruhe ihre geplatzten Illusionen hätten verarbeiten können. Doch was ihre Ehe betraf, gab es so viele Gesichtspunkte zu beachten und zahlreiche Empfindlichkeiten zu berücksichtigen. Kajsa, die Kompromisse hasste, begriff, dass sie nichts anderes mehr tat, als Kompromisse zu schließen. Kein Wunder, dass sie Gefahr witterte. Nach schwedischem Maßstab war Malmö zwar eine Großstadt, doch nicht groß genug, um ihrer beider Vergangenheit zu bergen.
Hals über Kopf war sie mit dem dreijährigen Joakim nach Christiansholm zurückgezogen. Hatte eine Dreizimmerwohnung gemietet, Frieden mit ihrer Mutter geschlossen und den Kontakt zu ihren alten Freunden wieder aufgenommen. Umgehend bekam sie auch eine Anstellung an der städtischen Bibliothek.
Olle kam pflichtschuldig hinterher und begann zu pendeln. Doch schon bald wurde er dessen überdrüssig und besorgte sich eine Übernachtungsmöglichkeit in Malmö. Was eine Reihe neuer Probleme nach sich zog, die sie bei jeder ihre Begegnungen in Atem hielt.
Sie behauptete, das Leben in Malmö verschlinge ihn mit Haut und Haar. Für sie und Joakim interessiere er sich nur noch halbherzig. Was ihn veranlasste, sich über die unkontrollierbare Flut ihrer Freunde und Verwandten zu beschweren. Sie führte ins Feld, ihre Ehe sei ein ständiges Provisorium. Worauf er sie daran erinnerte, dass sie als Erste umgezogen war.
Hin und wieder liebten sie sich mit derselben Glut wie damals, als sie es beide allein mit der ganzen Welt aufgenommen hatten. In solch erhitzten Momenten war nichts unmöglich; dann geschah es sogar, dass ihre Vorstellungen vom Leben miteinander im Einklang standen.
Und so kehrten sie zu den ewigen Fragen zurück: Wie kam es nur, dass sie beide, die doch wie geschaffen füreinander waren, so starrsinnig in unterschiedliche Richtungen strebten? Obwohl sie doch so gern gemeinsam . . . Denn das wollten sie doch? Zumindest sie wollte das.
Jetzt wollte sie ins Bett gehen, denn sie war sehr müde. Aber dazu kam es nicht mehr, im Nu war sie auf dem Sofa eingeschlafen.
Das Letzte, was sie hörte, war das Rascheln auf der Türmatte, als die Christiansholmsposten durch den Türschlitz geworfen wurde.
Mit einem Ruck fuhr er aus dem Schlaf und blickte sich in dem unbekannten, halbdunklen Raum um. Er brauchte ein paar Sekunden, um sich zu orientieren. Zum wievielten Mal er an die Oberfläche seines Bewusstseins gelangt war, wusste er nicht. Jedenfalls lag er immer noch in dem verdammten Bett.
Im Lauf des Tages hatte er mehrere Versuche unternommen, das Bett zu verlassen, am Ende jedoch einsehen müssen, dass er sehr krank war. Es war ihm ein paar Mal gelungen, sich auf die Toilette zu schleppen. Außerdem hatte er Besuch gehabt. Zuerst von einer Frau, die ihm eine Kanne Tee und belegte Brote brachte. Er hatte die Teekanne geleert, doch die Brote lagen immer noch ungegessen auf dem Nachttisch. Später war sie mit einer weiteren Kanne Tee gekommen, diesmal in Begleitung eines Mannes. Vom Fußende des Bettes aus hatten sie ihn besorgt und ungeduldig angestarrt.
Der Mann hatte vorgeschlagen, einen Arzt zu rufen, was er sich verbeten hatte. Alles, was er brauchte, war Ruhe. Doch gegen eine weitere Decke und ein paar Schmerztabletten hatte er nichts einzuwenden gehabt. Er konnte sich nur nicht daran erinnern, ob er sie auch eingenommen hatte. Nachdem das Paar unschlüssig den Raum verlassen hatte, war ihm klar geworden, dass sie ihm eine Frist bis zum nächsten Tag setzten. Sollte es ihm bis dahin nicht besser gehen, würden sie ihm zumindest einen Arzt aufdrängen, ob er nun wollte oder nicht. Er verstand sie. Als Hotelgast hielt er sich nicht an die Regeln. Schon letzte Nacht, als er sich das Zimmer genommen hatte, waren sie zögerlich gewesen. Starb er jetzt in ihrem Bett, würde sie das in eine unangenehme Lage bringen. Die Situation war erniedrigend.
Erneut hatte er von dem Jungen im Boot geträumt – obwohl er eigentlich nicht richtig geschlafen hatte, also war es genau genommen auch kein Traum gewesen. Eher eine stets wiederkehrende Fantasie, ein furchtbarer und bedrohlicher Fieberwahn, den er loswerden wollte. Doch so einfach entkam er ihm nicht, so viel war gewiss. Irgendetwas sollte ans Licht. Eine Erinnerung, die sich aufdrängte.
Der Blick, den Gertrud ihm gestern zugeworfen hatte. Der hatte alles in Gang gesetzt. Jetzt wusste er, warum sich eine kalte Hand um sein Herz geschlossen hatte. Es waren die Augen seines Vaters gewesen. Kalt, pragmatisch und entschlossen. So löste man Probleme auf Röshult. Eigentlich hatte sich nichts verändert.
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