Die hervorbrechende Erinnerung an Johans Tod hatte eine Lücke in seinen Schutzwall geschlagen. Ein chaotisches Gewirr von Bildern stürzte auf ihn ein. Es half nicht mehr, die Augen offen zu halten. Grelle Bilder blitzten aus den dunklen Ecken: Anna, blass vor Wut, mit dem großen Tranchiermesser in der Hand. Gertrud, ins Federbett gepresst, die Messerspitze gegen ihren Bauch gedrückt. Dann Annas Profil am Giebelfenster des Dachbodens. Sie lachte so merkwürdig, als hätte sie gerade ein Geheimnis entdeckt. Gertrud in Annas Bett mit dem Neugeborenen im Arm – Leif. Annas Verfolger, die aus dem Dickicht des Waldes kamen und über die lehmigen Felder liefen. Gertruds erhitztes Gesicht, ihre aus dem Dunkel der Blätter leuchtenden blaugrünen Augen. Der Vater wie festgenagelt unter der Fichte. Mit wutverzerrtem Gesicht, als sei man ihm am Ende doch auf die Schliche gekommen. Der frisch gefallene weiße Schnee, der sich unter ihm langsam rot färbte. Dann verschwammen die Bilder, um schließlich ganz zu verschwinden. Die Tabletten begannen zu wirken. Er sehnte sich nach einer Atempause, doch wagte er kaum, sich zu bewegen, aus Angst, die Bilder erneut zum Leben zu erwecken.
Die Erinnerung an Johan war sicher nur der Anfang. Vielleicht kamen noch schlimmere Dinge auf ihn zu. Die Unklarheit, was seine Mutter betraf . . . Er schauderte bei dem Gedanken.
Bis auf weiteres war er ans Bett gefesselt. Vielleicht wäre es am klügsten, dem, was ihn verfolgte, ins Gesicht zu sehen. Früher oder später musste er sich dem stellen. Und er wollte nicht noch einmal überrumpelt werden.
Vorsichtig begannen seine Gedanken um seine Mutter zu kreisen. In fragmentarischen Bildern gab sie sich sogleich zu erkennen. Eine schöne, rätselhafte Gestalt, stets von heftigen Empfindungen umgetrieben. Das verwirrte ihn. Er versuchte vergeblich, an dem Bild festzuhalten, das ihn durch die Jahre begleitet hatte. Dem Bild einer strengen, verschlossenen, vorzeitig gealterten Frau, die ihn von einem unscharfen Foto aus anstarrte. Doch die Anna, die sich an jenem Tag auf dem Steg befunden hatte, war anders. Damals war sie eine junge, verzweifelte Frau gewesen. Die langen, verfilzten Haare nass von Tränen und vom Seewasser.
Ihre Trauer war furchtbar gewesen. Als sie ihr totes Kind am Strand liegen sah, riss sie es an sich und schrie wie ein verwundetes Tier. Vater und Großmutter hatten sie mit Gewalt festhalten müssen, sonst wäre sie mit dem toten Kind an ihrer Brust sicher ins Wasser gesprungen.
Danach war sie lange im Bett geblieben, versteinert und unnahbar. Max hatte sich nicht blicken lassen, die anderen auch nicht. Um seinen toten Bruder hatte er nicht trauern können, doch er trauerte um sie, weil er sie für alle Zeiten verloren gab.
Nur sein Vater und er hatten Johans Begräbnis beigewohnt. Das einzige Gefühl, an das er sich erinnern konnte, als er am Rand des Grabes stand, war flüchtiger Neid gewesen. Er galt dem Miniatursarg, in dem sein Bruder bestattet wurde. Solch einen hätte er gern zum Spielen gehabt. Seiner Meinung nach war es eine empörende Verschwendung, solch einen wunderbaren Gegenstand einzugraben.
Johan musste drei Jahre alt gewesen sein, als sein Vater ihn ertränkt hatte wie ein Katzenjunges. Also war er selbst fünf gewesen. Und Anna? Sie war erst achtundzwanzig.
Hin und wieder kehrte sie zu ihm zurück, nachdem sie die größte Trauer überwunden hatte. Sie war wieder bereit für Liebkosungen und spielte mit ihm. Augenblicke der Vertrautheit und des Glücks, wenn auch allzu kurze. Es war noch etwas anderes, das sie quälte. Eine erschreckende Finsternis legte sich zuweilen über sie. Hüllte sie ein und machte sie unerreichbar.
Nach und nach wurde ihm klar, wie andere sie betrachteten. Wenn die Leute über seine Mutter sprachen, geschah dies in einem besonderen Ton. Das verletzte ihn. Sie sagten, sie sei »eigen«. Manchmal lachten sie höhnisch. Nannten sie wunderlich, verrückt, übergeschnappt, aber nur hinter ihrem Rücken. Niemand hätte sich getraut, ihr das ins Gesicht zu sagen. Sie nötigte ihnen Respekt ab, ob verrückt oder nicht.
Manchmal ging sie fort. Nahm einfach Reißaus. Vielleicht hatte sie das schon vor Johans Tod getan. Daran konnte er sich nicht erinnern. Wenn die Dunkelheit über sie kam, machte sie sich in aller Stille davon. Der Vater spannte die Nachbarn mit ein, um sie zu suchen. Wenn sie gefunden wurde, war sie ausgehungert und verwirrt. Aber sie erholte sich rasch. Nach ein paar Tagen im Bett stand sie wieder auf und wandte sich unverzüglich ihren Verpflichtungen zu, als sei sie nur ein wenig unpässlich gewesen. Sie war fleißig und geschickt mit den Händen. Tüchtig am Webstuhl. Sie webte Teppiche für die Leute aus der Umgebung.
Aber dass sie so hübsch gewesen war – das hatte er vergessen. Es war Gertrud gewesen, die dazwischengetreten war und ihm den Blick verstellt hatte. Sie hatte ihm die Erinnerung an Anna gestohlen. So wie alles andere.
Und was war schließlich mit Anna geschehen? Warum war sie plötzlich für immer verschwunden gewesen? Auch daran konnte er sich nicht erinnern. Und er war sich auch nicht sicher, ob er es wollte. Zumindest jetzt nicht. Vielleicht später.
Vaters Furcht einflößende Gestalt tauchte wieder auf. Für ihn hatte er nie innige Gefühle gehegt. Furcht hatte er empfunden und einen wachsenden Hass. Nun begriff er, dass sein Vater seine Nachkommen unter demselben Aspekt betrachtete wie das Vieh. Ein missgebildetes Kalb wurde sofort getötet. Warum nicht auch ein missgebildetes Kind?
Es war ein Geheimnis, das sie teilten. Auch wenn sich der Vater nicht sicher war, worin das Geheimnis bestand. Sein Blick ruhte oft schwer auf Max. Vielleicht versuchte er zu ergründen, was der Sohn an jenem Tag auf dem Steg eigentlich gesehen und verstanden hatte. Er musste sich nicht beunruhigen. Die Erinnerung war rasch vertrieben worden. Dennoch war es zu dieser Zeit, dass Max begann, seinen Vater beim Vornamen zu nennen. Wenn er ihn ansprach, sagte er stets Henning zu ihm. Er wusste selbst nicht, warum, doch das Wort Vater kam ihm nicht mehr über die Lippen. Zu dieser Zeit galt es als respektlos, seinem Vater die ihm zustehende Anrede zu verweigern. Wenn er sah, wie der Vater bei der ungewohnten Anrede zusammenzuckte, überkam ihn jedes Mal die Angst. Und die Bestrafung ließ auch nie lange auf sich warten. Wenn der wütende Henning ihn zufällig in die Hände bekam, setzte es immer eine extra Ohrfeige für seine Unverschämtheit.
Bis zu jenem Tag mehrere Jahre später, an dem er die überraschende Entdeckung machte, dass er nicht nur einen Kopf größer, sondern auch stärker war als sein Peiniger. Da zahlte er es ihm heim, und es hätte böse ausgehen können, denn er begriff nicht, wie stark er war, und heimzuzahlen hatte er eine Menge. Die Machtverhältnisse hatten sich geringfügig verschoben. Es war nicht mehr er allein, der dem anderen aus dem Weg ging. Sie achteten beide darauf, einander nicht zu nahe zu kommen. Zwei wütende Hunde, die es vorzogen, sich aus sicherem Abstand anzuknurren. Doch der Vater knurrte am lautesten. Er konnte seinem Sohn immer noch Angst einjagen. Diese Übermacht behielt er bis zu seinem Tod. Der Teufel wusste, ob er sie nicht immer noch besaß.
Fünfundvierzig abenteuerliche Jahre in den Staaten waren offenbar nicht genug gewesen. Er hatte es dort drüben mit ein paar richtig gefährlichen Leuten zu tun gehabt, aber das half ihm jetzt nicht weiter. Das Wiedersehen mit Leif und Gertrud hatte ihm Angst gemacht. Der Schatten des Vaters lastete immer noch schwer auf Röshult.
Um mit den beiden fertig zu werden, brauchte er einen Verbündeten. Vielleicht würde er ihn in Birger finden, seinem anderen Halbbruder. An ihn erinnerte er sich nur schwach. Ein kleines, schmächtiges, gedemütigtes Kerlchen – ängstlicher, als er jemals gewesen war. Aber vielleicht hatte er sich ja gemausert. Zumindest war es einen Versuch wert. Wenn er wieder auf den Beinen war, wollte er ihn ausfindig machen.
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