„Willkommen, Ellerbrook — Du franker Lützower — Du Wälschenschreck! . . . Du Kriegskamerad! Willkommen bei den Turnern und Teutonen!“
Friedrich Ludwig Jahn, der Turnvater, war wohl preussischer Premierleutnant a. D. und Führer des 3. Bataillons Lützow 1813. Er besass den russischen Wladimirorden. Grosse Geister Deutschlands hatten ihm ihre Werke gewidmet. Er war Ehrendoktor von Jena und Kiel. Aber in Wahrheit stand da — unzerstörbar in seinem eigensten Wesen — und wenn er auch studiert hatte und Lehrer der Jugend gewesen war — der mächtige Bauernsohn aus Lanz in der Priegnitz, aus deutscher Erde gewachsen, verwachsen mit Wald und Wiese, Wind und Wetter, Licht und Luft — ein Stück wandelnde deutsche Urgewalt. Wie Kobolde überkollerten sich die deutschen Worte eigener Prägung auf den polternden Lippen.
„Du bist zum ersten Mal auf einem wahren und gerechten Turnplatz, Bruder in Lützow! Da siehst Du deutsches Jungtum, wie es unser Malspruch nennt: Wahrhaft und wehrhaft — ehrlich und wehrlich — rein und ringfertig— keusch und kühn! — Ja — ich mahne die Turner immer: Seid keusch! Arge Lust wird durch Reck und Barren gekühlt!“
„Und seid mässig! Nicht Quaas und Frass — Wasser und Brot ist Turnerspeis. Milch macht den Mann!“ Der jähzornige Riese versetzte den nächsten Turnern ein paar derbe Maulschellen. „Was steht Ihr herum wie die Eckner mit dem Bahgesicht? Wollt Ihr im Sand baden wie die Hühner? Marsch jetzt in die Spree! Hinüber nach dem Oberbaum, in die Schwimmschule des Oberst Pfuel!“
„Nun — und Du, Ellerbrook!“ Der Turnvater gab dem Schwarzrock plötzlich einen fragenden Bärenstoss vor die Brust: „Du kommst aus Jena?“
„Man verfolgt mich in Jena von Berlin her. Darum bin ich hier!“
„Ha — ich kenne sie — unsere Mehrmacher und Rechenhexer und lebendigen Zahlbretter, die sich dünken, sie seien das deutsche gemeine Wesen! Sie verweigern ja auch mir das Amt eines Lektors der deutschen Sprache! Sie verweisen mich als Bauer auf den Mist. Was kann man für Dich tun? Du suchst unsern Lützower Mitbruder — den kleinen Berliner — den Schellhase? Vorhin sah ich den Gesell noch beim Weitsprung!“
Fritze Schellhase schwang sich affenartig flink an langer Stange über ein hohes Reck, landete im Schlusssprung, kam in grauleinenem Turnerdrill über dem schmächtigen Körper heran, die Stupsnase dreist in dem humoristischen, bartlosen Gesicht. Er hatte bei den Lützowern freilich nicht zu den reitenden freiwilligen Jägern in ihrer feierlichen schwarzen Todestracht gehört, sondern zu den nur mässig, mit scharlachroten brittischen Röcken ausgerüsteten Musketieren zu Fuss, aber sein Händedruck mit dem Jenaer Studenten war heute so kriegstreu wie im vorigen Herbst bei dem grossen Burschenfest auf der Wartburg.
„Ob ich Dir in Berlin zur Hand gehen kann?“ sprach er. „Klar! Mein Irossvater hat schon an den ollen Ziethen Gäule verkloppt, und der Ziethen verstand was davon! Seit Anno Toback sind die Schellhase Pferdehändler gewesen — und, Mensch, immer so redlich wie möglich . . . Wenn Einer freilich zu sehr aus Potsdam ist . . . Nun komm — ich bringe Dich nach Berlin hinein!“
Die beiden gingen. Christian Ellerbrook drehte am Rande des Turnplatzes noch einmal den jungen Römerkopf. Bis hierher drang die Stimme Vater Jahns. Er hatte eine Schar seiner Jünger um sich versammelt. Sie hockten im Kreise und horchten auf eine der täglichen runenhaften Ansprachen des berserkerstarken Getreuen Eckarts im Bart.
„Fahneflüchtlinge, Feiglinge, Kuppler haben im neuen Staat kein Bürgerrecht! Auch nicht, wer im Ausland die Volksehre befleckt — nicht, wer sich mit einer noch nicht eingebürgerten Undeutschen verheiratet — nicht, wer eine Familie ernähren kann und dennoch ein Hagestolz bleibt. Ein ausgestopfter Kuckuck gehört auf den Hagestolzensarg, kein jungfräulicher Kranz!“
Und endlich noch einmal ganz aus der Ferne wie dumpfer Donner der Weckruf eines Predigers in der deutschen Wüste:
„Erbärmlichkeit ist das Grab alles Grossen und Guten: Rhein und Rinnstein! Berlin und Berlinchen! Wien und Winzig! Leipzig und Lausig! Seid ein grosses Volk! Und das schönste Bild von einem ganzen Volk bleibt doch immer das Bild einer grossen, sich liebenden Familie!“
Die Beiden, der Student von Jena und der junge Schellhase, der sich auf der Hochschule zu Berlin der Tierarzeneikunde befliss, standen auf einer weiten, windüberpfiffenen, tellerebenen Grasfläche. Ein paar Jungen liessen Drachen steigen. Sonst war kein Mensch in der Nähe. Aber weiter drüben regten sich in regelmässigen Abständen hintereinander gereihte bunte Menschenstaffeln mit glitzernden Helmen, die Waffenröcke blau, mit weissem Leinen bekleidet die Beine, die im Musiktakt des Vorbeimarsches vor einer Gruppe Generale zu Pferd wie Glieder eines einzigen Riesenkörpers aus Reih und Glied flogen.
„Da übt die Jarde für die jrosse Frühlingsparade!“ sprach ‘Fritze Schellhase durch den windverwehten Paukenschlag. Der Schwarze furchte missmutig die Stirne. Er blickte von dem regellosen und ungebundenen Durcheinandergehüpfe und Gespringe der grauleinenen langmähnigen Turner drüben zu dem Lineal von ausgerichteten, im Gleichschritt die Erde erschütternden, im Dienst erstarrten Grenadieren des Königs von Preussen. Er überschaute finster den endlosen Tempelhofer Exercierplatz.
„Ha — der Prahlplatz!“ sprach er. „Und hier stehen zwei alte Lützower Freischärler! Das ist die zum Himmel schreiende Kluft der Zeit: Auf dem Turnplatz die Freiheit! Auf dem Exercierplatz der Gehorsam!“
„Besser Drillich als Drill!“ schrie der Turner. „Nu komm zum Halleschen Tor!“
Baumlange Grenadiere sonnten sich da auf der Bank vor der Wachtstube. Der braungebrannte Römerkopf des Studiosus Ellerbrook lugte misstrauisch auf sie nieder.
„Was bedeutet denn das ‚U’ mit der Kaiserkrone auf den weissen Achselklappen, Schellhase?“
„Na, Mensch! Alexander von Russland! Das is dem sein anjestammtes Regiment!“
„Ha — des Zaren!“
Passt Ihnen das etwa nicht, Männeken?“ frug der Corporal der Alexander-Grenadiere.
„Der Zar ist uns Burschen eingeschworener Feind! Nur Ihr deutschen Krieger tragt auf der Schulter seinen Stempel!“
„Sie sind wohl schon lange nicht arretiert worden — was?“ erkundigte sich gedämpft der schnurrbärtige Wachhabende.
„Ich bin frank und hart! Ich sage, was ich denke!“
Ein Windstoss öffnete den dunklen Wandermantel, den Christian Ellerbrook über seinem schwarzen Burschenwams trug. Auf dem wurde das Eiserne Kreuz sichtbar. Die Miene des Unteroffiziers von den Alexander-Garde-Grenadieren wurde viel milder.
„Habe ich auch! Woher Ihres?“
„Ligny!“
„War ich auch dabei! Ich war überall dabei. Aber bei Ligny — erinnern Sie sich noch? Das war an dem Abend das einzige Mal, dass es gleichzeitig am Himmel und auf der Erde geblitzt und gedonnert hat!
Na — nun gehn Sie mal weiter! Und wenn ich Ihnen einen guten Rat geben darf — wenn Sie drinnen in Berlin reden wollen, dann schweigen Sie! Ist besser!“
„Unser Pferdejeschäft liegt malerisch an die olle Stadtmauer jelehnt, gerade zwischen dem Halleschen und dem Potsdamer Tor“, sagte Fritze Schellhase. „Vom Futterboden oben kannst über die Mauer weg durch die freie Natur bis zum Dorf Stegliss in der Ferne sehen. Vorteil — begreifste —, dass man mit den Gäulen gleich draussen ist. Komm mit! Ich weiss gleich dabei bei ‘nem Schneidermeister ein propperes Stübchen!“
„Erst muss ich den Geheimen Oberkriegsrat und Staatsrat und Polizeirat — was weiss ich — kurz einen gewissen Römhild koramieren! Hast Du je was von dem Kerl gehört?“
‘Fritze Schellhase blieb stehen und faltete mit einem Blick zum Himmel die Hände.
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