„Der Schmalzgesell ist in solcher Hast nach Weimar abgereist, dass er seinen Mantel hier vergessen hat!“
„Der Mantel hängt noch jetzt bei seinem Sohn auf der Bude!“
„Wir holen ihn!“ schrie der Studiosus Ellerbrook leuchtenden Auges. „Burschen! Ich weiss einen göttlichen Skandal! Kommt!“
Der mondklare Markt brauste in unruhiger Erwartung der Burschenschaft. Aus den lichthellen Fenstern der verschneiten alten Giebel guckten die Spiessbürger mit Kind und Kegel. Dann wuchs von der Ecke her ein im Fackelschein sich näherndes Triumphgeschrei. Ein stürmisches Halloh aus hundert Kehlen. Gellend wie in Lützows Tagen der Befehl des Studiosus Ellerbrook.
„Rollt mal ein leeres Fass aus dem ‚Stern’ herbei!“
Dort fuhren die Damen entsetzt von den Fensterbrüstungen des Gasthofs zurück.
„Um Gottes willen! Da schleifen sie ja einen Menschen über das Pflaster! Sie schlagen auf den Unglücklichen ein!“
„Es ist nur sozusagen eine litterärische Vogelscheuche, Mesdames!“ beruhigte der Wirt. „Die durchreisenden Herrschaften müssen mit der frischen Art, in Jena zu leben, vorlieb nehmen. Jetzt steigt Einer der Verwegensten unter den jungen Herrn auf das Fass. Die Commilitonen beleuchten mit Pechbränden sein Gesicht! Sehen Sie nur, wie seine Augen über die Köpfe hin funkeln!“
„Ihr Burschen!“ schrie Christian Ellerbrook. „Ihr seht hier den Bluthund von Galgenbach, genannt Kotzebue! Wir müssen ihm einen Denkzettel geben! Er selber ist leider nicht da! Also haben wir seinen Mantel mit Stroh ausgestopft. Nun wollen wir seinem Stellvertreter mit unsern Ziegenhainern unsere Meinung sagen!“
Die Knüttel aus Hagedorn klatschten auf den still liegenden und stäubenden und knisternden Radmantel. Die Fackeln lohten. Erhitzte Gesichter lachten.
„Achtung: die Pedelle!“
Ein Massenschrei des Zorns.
„Licht weg!“
„Pereat!“
„Bursche raus!“
Jena, das alte, wilde Jena, schäumte auf. Jena war nicht gewillt, vor zwei Pudeln oder ein paar Stadtsoldaten zu weichen. Die letzte Husarenabteilung hatte der Grossherzog, der ewigen Krawalle müde, schon im Vorjahr für immer aus dem Städtchen weggenommen. Das Städtchen war der Burschenschaft selbstherrliches Reich.
„Lachst Du nicht, dass Kotzebue verprügelt wird?“ schrie begeistert im Feuerschein Christian Ellerbrook von seiner Tonne. „Hei! Bruder Sand! — Du hast keinen Sinn für Humor!“
In dem von schwarzen Haarsträhnen umwallten Antlitz des Theologen Sand regte sich keine Miene. Er sagte nur kalt:
„Für Kotzebue ist es zu wenig!“
„Es ist genug!“ Der Studiosus Ellerbrook sprang mit einem Turnersatz von dem Bierfass. „Gebt den Mantel dem Commilitonen Kotzebue zurück! Er soll ihn seinem Vater schicken! Sauber ausgeklopft sei er!“ Er brach ab. Es klangen Rufe von den Häusern her. Wilde Rufe. Studenten liefen mit langflatternden Haaren über blossen Hälsen und schrien:
„Die ‚Isis’ ist confisziert!“
„Rast nur, Ihr Büttel der Gewalt, zu der der Druck der Grossen selbst unsern Fürsten zwingt!“ Christian Ellerbrook breitete stürmisch die Arme gen Himmel. „Aber unsere Oriflamme: die deutsche Freiheit und Volksehre — die confisziert Ihr nicht!“
„Als wir in Weimar uns begegneten, Herr Ellerbrook, im blauen Wohnzimmer und auf dem Markt — da riss der Herbst die Blätter von den Bäumen. Jetzt will es Frühjahr werden. Wir schreiben den März. In unserem Garten blühen die Schneeglöckchen.
„Der Winter liegt hinter mir. Wir haben ihn in alter Art mit Maskeraden und Lesekränzchen und guten Vorstellungen im Komödienhaus und Redouten der Schönen Welt im Stadthaus verbracht. Aber alle diese brausenden Belustigungen haben eine innere Wehmut nicht zu bannen vermocht, die seit dem vorigen Oktober meine Begleiterin ist.
„Ich mag mich nicht mit anzüglichen Worten blossstellen. Und doch: Es ist mir unmöglich, ohne Betrübnis an unsere, ach so flüchtigen Gespräche zurückzudenken. Ihre rauhen und strengen Worte haben ein Loch in die gefällige Mauer des Weltbürgertums gestossen, das uns hier, im Schatten des Herrn von Goethe, so freundlich umfängt — und durch diese Lücke sind die Zweifel in meine Seele gedrungen, die Keiner um mich versteht.
„Nur mich selber kann ich fragen: Friderique — lebst Du Dir selber zur Genüge, wie wir alle hier, oder bist Du Andern — Menschen ausserhalb Deines Standes — bist Du womöglich der Nation das schuldig, was Gott Dir vor Andern gab?
„Der Professor Kant, in Königsberg, dessen ‚Kritik der reinen Vernunft’ auch wir Frauenzimmer hier in schuldiger Ehrfurcht lesen, lehrt in seinem Kategorischen Imperativ: ‚Handle als Vorbild für alle!‘ Etwas von dieser Maxime strahlte mir, mein Herr, aus Ihrem Wesen, wenn Sie, dem die Natur ach so wenig Weichmut in die Wiege knüpfte, es verkündeten, dass der Mensch Pflichten gegen Volk und Vaterland habe.
„Der Docht des Lichts, das mir den Weg weisen soll, flackert unruhig im Wind! Sie haben ihn entzündet. Sie dürfen ihn nicht verlöschen lassen. Ach — ich begreife: So wie Ihre wilde schwarze Jenaer Burschentracht sich von dem dezenten Anzug unserer Weimarischen Herren abhebt, so auch Ihr stürmisches Wesen von der abgeklärten Besonnenheit hier. Trotzdem: dies ist meine Bitte: Reiten Sie einmal, in Ehrbarkeit, als Freund, den kurzen Weg nach Weimar herüber und weisen Sie nicht einer schönen Seele, sondern einer suchenden Seele, den Weg. Die ich bin, mein Herr, die Ihrige
Friderique von Laubisch.“
Der Studiosus Ellerbrook stieg an diesem blassblauen Märzmorgen des Jahres 1818 mitten in Alt-Jena die steile Treppe hernieder. Unten auf dem Eichplatz legte er das Schreiben wieder in die Falten, in denen es das Fräulein von Laubisch mit ihrem Petschaft — einem sinnenden Genius mit Säulenstumpf und Trauersweide — für die reitende Post gesiegelt hatte, und schob es in die Tasche seines nachtdunkeln Wamses.
„Was schreibt Dein Mädchen, Bruder?“ frug ein vorbeikommender Bursch und schloss sich ihm an.
„Es ist kein amouröser Brief!“ sagte der einstige Freischärler. „Und ich habe kein Mädchen! Ich habe drei Kriegsjahre für das Studium verloren. — Ich darf mich dazu halten, dass ich mir dieses Frühjahr endlich den Jenenser Doktorhut aufsesse.“
Er hatte es ganz nahe zu dem grauverwitterten Universitätsgebäude. Er stieg, im Gedränge der Studiosen, die ausgetretenen Steinstufen des uralten ehemaligen Paulinerklosters empor. Der Hörsaal des Professors Oken war wie immer überfüllt. Zwischen den einheimischen Burschen sassen die vielen studierenden Griechen — ganz vorn ein Prinz aus dem Fürstengeschlecht der Komnenen —, die zahlreichen Ungarn, die livländischen Barone. Die Gänsekiele kratzten in den Collegienheften. Der Kachelofen glühte. An die der Hisse wegen geöffneten Fenster waren Leitern gelehnt, auf deren obersten Sprossen Studenten standen und von aussen dem Professor Oken zuhörten.
Jetzt sprach da vom Katheder nicht der Herausgeber der ‚Isis’, der in ihr die zum Fusstritt erhobenen Beine vor die Namen seiner Gegner sessen liess. Ein ernster Gelehrter, schon nahe den Vierzig, erläuterte da in leicht österreichischem Sprachklang seinen Schülern das Wesen der Quallen und Knorpelfische und ermahnte sie, im Fussgetrampel des Abschieds, das jetzt eben durch die Munificenz des Herrn Ministers von Goethe neu gegründete Zoologische Cabinett fleissig zu besuchen.
Draussen vor der Türe des Hörsaales sah der Student Ellerbrook plötzlich zu seinem Missvergnügen den gefürchteten Pedellen Nitschke vor sich, dessen unheimlich listiges Augenrollen nie etwas Gutes im ewigen Kampf mit der Burschenschaft verhiess.
„Nitschke!“ sprach er. „Euer illüstres Spitzelcorps von Pferdeund Gassenjungen in Jena ist an mir verloren. Mein Gewissen ist rein. Ich habe mich nicht an der neulichen grossen Gartenbataille mit den Handwerksburschen beteiligt. Ich war nicht dabei, als dem Kaufmann Voigt am Kranz sein Putzladen gestürmt worden ist, weil der Lümmel sich geäussert hat, wir Burschen sollten von den Leipziger Kaufmannsdienern Sitten lernen! Ich habe bei allen Schlägerskandalen in lesster Zeit nur testiert, weil ich in nächster Zeit mein Doktorexamen laudabiliter absolvieren möchte!“. Er stutzte: „Wie? Ich bin trotzdem vor Seine Magnificenz citiert? . . . Mein Gott . . . was soll das bedeuten?“
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