Troll sah Jonas an. Seine Augen waren groß, klar und grau.
„Wenn ich so ein Ungeheuer träfe, würde ich es bitten, daß ich lange Zeit in seinem Mund liegen und schaukeln darf“, sagte sie.
„Ja, das wäre schön“, bestätigte Jonas. Und er spielte auf seiner Gitarre und sang dazu: „Mir geht’s so gut, mir geht’s so gut, ja, richtig gut …“
Aber kein Seeungeheuer kam aus dem Ratsee.
„Ihr habt zuviel Schmutz in euren Seen“, sagte Jonas schließlich.
„Wer – wir?“ fragte Troll beleidigt.
Doch Jonas gab keine Antwort. Es war ein ziemlich windstiller Tag, und sie mieteten ein Ruderboot. Troll konnte recht gut rudern, und das wollte sie Jonas zeigen. Er verstaute seinen langen, schmalen Körper auf dem Boden des Bootes, lag dort und sah zu den Wolken, die Gitarre zwischen den Füßen, während Troll ruderte. Das Boot schaukelte ein bißchen hin und her, aber er schien es nicht zu merken.
Es war, als fände er es ganz selbstverständlich, daß Troll rudern konnte. Nicht das kleinste Lob kam über seine Lippen.
„Wenn wir in den Ferien sind, darf ich fast nie rudern“, sagte Troll versuchsweise. „Wenn Mama dabei ist, will sie rudern, weil man dabei so viele Kalorien verliert, und dann wird sie nicht dicker. Und wenn Papa dabei ist, will er rudern, weil er Wert darauf legt, daß das Boot ganz schnurgerade fährt und kein bißchen hin und her schaukelt.“
„Ein bißchen hin und her schaukeln ist am schönsten“, meinte Jonas und schloß die Augen.
Die Dämmerung brach schon herein, als sie nach Hause fuhren. Jonas hatte keine Uhr.
„Ich mag keine Uhren“, sagte er. „Wenn man immer weiß, wie spät es ist, muß man dauernd etwas tun. Himmel, jetzt ist’s acht Uhr, jetzt muß ich essen! Oder: Herrje, jetzt ist es drei, ich muß Tabak kaufen. Oder: Jetzt ist es zehn, da muß ich schlafen. Ohne Uhr geht alles von selbst. Natürlich verpaßt man manchmal einen Zug, aber es gibt so viele Züge.“
„Aber in der Arbeit mußt du doch wohl eine Uhr haben? Oder klingelt es bei euch wie in der Schule, so daß du weißt, wann du anfangen und aufhören mußt?“
„Bei uns in der Arbeit darf man wirklich keine Uhr tragen“, sagte Jonas. „Da kommt der Meister wie eine Rakete angeschossen. Uhren könnten in den Maschinen steckenbleiben, und dabei würde einem vielleicht die ganze Hand abgerissen. Oder ich würde zu Mus zerquetscht. – Nein, das geht nicht, eine Uhr kann ich in der Arbeit nicht brauchen. An den Wänden hängen große Uhren, weißt du. Und im übrigen besteht keine große Gefahr, daß man weiterarbeitet, wenn die anderen Pause machen. Das hat man doch im Gefühl, wenn’s soweit ist.“
Er parkte seinen Kleinbus am Straßenrand, schlug einen munteren Akkord auf der Gitarre und sprang heraus.
„Ich möchte so werden wie du“, sagte Troll leise.
Jonas schüttelte den Kopf. „O nein, du sollst nicht so wie ich werden. Versuch statt dessen lieber, du selbst zu sein. Das ist am besten. Sieh dir meinen Papagei an. Der versucht nicht so zu sein wie andere Papageien. Er ist stark und klug und frißt Nüsse. Er ist großartig.“
Troll seufzte. Sie hatte sich in Baß und Refrain verliebt.
Ein aufregender Filmbesuch
Von nun an flogen die Wochen nur so dahin. In der Schule fiel es Troll oft schwer, aufzupassen. Sie dachte meistens an das, was sie und Jonas zusammen unternommen hatten. Oder was sie als nächstes tun würden, doch das wußte man natürlich nie im voraus.
Manchmal war Jonas mehrere ewigkeitslange Nachmittage nicht zu Hause. Und dann war er plötzlich wieder da – ohne die geringste Erklärung, was er getan hatte. Das machte aber nichts. Sie stürzten sich mit Schwung direkt ins nächste Abenteuer – päng! Und es waren große, wunderbare Abenteuer, die sie zusammen erlebten.
Manchmal gingen sie in den Wald. Sie verglichen, welche Steine am meisten wie Tiere oder Menschen aussahen und untersuchten, welches Moos sich an der Wange am weichsten anfühlte und welchen Baumstamm man am besten umarmen konnte. Manchmal fanden sie einen seltsamen Pilz und saßen später stundenlang am Tisch, um ihn mit den Pilzen in Jonas’ kleinem Handbuch zu vergleichen. Nie waren die Pilze verzeichnet, die sie gefunden hatten, doch krank wurden sie davon trotzdem nicht. Es war wohl deshalb, weil Jonas so muntere Lieder sang, während er sie zubereitete, und ihnen so gut zuredete. Jedenfalls schmeckten sie hauptsächlich nach Tannennadeln.
Manchmal waren sie drunten am Hafen, denn Jonas fühlte sich sehr zum Meer hingezogen.
„Das geht wohl nur den Menschen so, die nicht am Meer geboren worden sind“, meinte er.
Troll dachte darüber nach.
Doch, das Meer war schon etwas Schönes, aber sie war ja auch nie davon getrennt gewesen.
Sie beobachteten, wie sich die Bootseigentümer mit ihren Zelttuchüberzügen im Wind abplagten. Die Überzüge sollten die Boote gegen den Winter schützen. Jonas fand das wahnsinnig lustig.
„Wenn ich meinem Auto jetzt auch einen grünen Wintermantel nähen würde!“ sagte er. „Einen mit Kapuze!“
Jonas versperrte seine Wohnung nie. Er hatte keine Angst vor Einbrechern. Wenn jemand sich die Mühe machte, hereinzukommen, konnte er schon etwas mitnehmen, falls er es ganz besonders dringend brauchte, fand er. Doch nicht gerade den Papagei. Aber der war bestimmt klug genug, um sich zu verteidigen, wenn er bei Jonas bleiben wollte. Und vielleicht hatte er Lust auf ein Abenteuer.
„Wo hast du den Papagei gekauft?“ fragte Troll.
„Gekauft!“ wiederholte Jonas. „Du glaubst doch wohl nicht, daß man einen Papagei wie irgendeine ganz gewöhnliche Schnupftabakdose kaufen kann! Nein, ein richtiger Papagei kommt von selbst, wenn man es am wenigsten ahnt.“
„Und wie ist deiner gekommen?“ fragte Troll und ließ sich auf ihrem absoluten Lieblingsplatz nieder: auf dem Boden in der Ecke, mit ausgestreckten Beinen. So konnte sie stundenlang sitzen … Na ja, vielleicht nicht gerade stundenlang, aber mehrere Minuten schon.
„Eines schönen frühen Morgens wollte ich Schnupftabak kaufen“, begann Jonas zu erzählen. „Als ich zum Kaufladen im Dorf kam, war er noch nicht geöffnet. Ich setzte mich auf die Treppe und dachte nach. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis der Kaufmann kam, denn die Sonne schien schon recht warm. Bestimmt kommt Persson bald und schließt den Laden auf, dachte ich. Eine Prise Schnupftabak schien mir gerade das Richtige, ehe ich zum See ging, um über die Bucht zu schwimmen. Doch es kam mir gerade so vor, als würde mich jemand beobachten. Die Katze, die auf der Treppe lag, war es nicht, denn sie hatte die Augen geschlossen. Und es waren auch nicht die Leute in den umliegenden Häusern, auch nicht die Autos oder die Steine oder …“
„Wer war es dann?“ unterbrach ihn Troll mit großen Augen.
„Tja, plötzlich hörte ich eine Stimme in meinem Kopf, oder vielleicht auch in meinem Ohr“, sagte Jonas und schloß die Augen. „Die Stimme sagte: ‚Geh sieben Schritte nach rechts, sing dann sämtliche Strophen des Liedes: Als ich ein armes Weib war, und blinzele viermal. Dann, wenn du die Augen öffnest, wird das Mädchen vor dir stehen, das du heiraten wirst.“‘
„Nein!“ rief Troll, der vor Spannung und Angst ganz heiß war.
„Doch, so war’s, und du kannst dich darauf verlassen, daß ich die Anweisungen befolgte. Sieben ziemlich große Schritte nach rechts, das ganze Lied: Als ich ein armes Weib war, mit siebzehn Strophen – das dauerte seine Zeit, kann ich dir sagen, und die fünfzehnte Strophe konnte ich gar nicht ohne weiteres. Vielleicht kam es deshalb so, wie es kam. Denn als ich viermal geblinzelt hatte und die Augen öffnete, was sah ich da? Tja, der Käfig mit dem Papagei stand vor mir auf dem Boden! Und der Papagei sagte: ‚Es reiten drei Reiter um den Ararat herum. Jetzt hab ich das Meer satt. Ich komme mit dir nach Hause!“‘ Jonas nickte und fuhr fort: „Und der Papagei sah mich auf dem ganzen Weg nach Hause mit seinen glänzenden Augen an. Seit dieser Zeit hat er nie ein Wort gesagt oder auf andere Weise zu erkennen gegeben, daß er sich wohl fühlt. Und ich war recht froh“, schloß er, „daß ich nicht heiraten mußte, denn das hätte mir überhaupt nicht gepaßt. Da darf man nicht einmal Schnupftabak schnupfen, habe ich gehört.“
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