Troll sah sich im Bus um. Er war wirklich voll. Zuoberst thronte ein Käfig mit einem grünen Papagei darin. Er saß ganz still auf seiner Stange.
„Den nehmen wir zuerst“, sagte sie. „Er friert vielleicht.“
Jonas sollte eine Zweizimmerwohnung im ersten Stock beziehen. Er fand es seltsam, daß Troll keine Ahnung hatte, daß dort jemand ausgezogen war. Sie wohnte schließlich im nächsten Aufgang.
„Woher soll ich das denn wissen?“ fragte sie verwundert. „Bestimmt haben die Leute keine Kinder gehabt. Ich glaube nämlich, daß ich alle Kinder kenne, die hier im Haus wohnen. Drei sind es: Christina, die dauernd Klavier spielt. Und Thomas, der Pfadfinder. Dann noch Erik, der ist Orientierungsläufer, weißt du. Jeden Sonntagmorgen um sieben Uhr rennt er los und stapft mit dem Kompaß im Wald herum. Dann kommt er mit zerrissener Hose und Tannenadeln in den Haaren wieder heim und ist wahnsinnig glücklich. Aber so was ist nichts für mich. Es gibt nichts, was ich tun könnte.“
Sie begannen Jonas’ Habseligkeiten ins Haus zu tragen. Jonas war wahnsinnig stark. Er trug sein Bett auf dem Kopf. Troll trug nur den Papagei im Käfig.
„Später machen wir eine Umzugsmahlzeit“, sagte Jonas. „Wenn wir fertig sind.“
Doch als sie zur Tür von Jonas’ neuer Wohnung kamen, an der noch kein Namensschild befestigt war, blieb Troll stehen und faßte sich an den Kopf.
„Oje, ich darf ja nicht zu Fremden in die Wohnung gehen!“ „Dann springst du eben hinein, wenn du meinst, daß ich ein Fremder bin“, sagte Jonas.
Aber Troll trug nur alles bis zur Türschwelle, und Jonas brachte die Sachen dann in seine Wohnung.
„So gibt’s keinen Streit“, sagte Troll.
„Dabei mag ich Streit gern“, sagte Jonas zwinkernd. „Für mich gibt’s keinen Samstag ohne eine ordentliche Prügelei.“
Wenn er lächelte, wurden seine Augen ganz schmal. Troll fühlte sich richtig aufgekratzt. Es war schön, einen neuen Freund zu haben.
„Wie alt bist du?“ fragte sie.
„Fünfundzwanzig“, erwiderte Jonas. „Jedenfalls ungefähr. Wenn du willst, sehe ich mal in meinem Führerschein nach.“
Er muß doch wenigstens wissen, wie alt er ist! dachte Troll verwundert.
„Aber willst du mich nicht fragen, wie alt ich bin?“ sagte sie schließlich.
„Nein, warum denn? Spielt das eine Rolle?“
„Also, du bist wirklich ein komischer Typ“, sagte Troll.
„Alle Erwachsenen fragen doch, wie alt man ist und in welche Klasse man geht und worin man am besten ist.“
„Also gut“, erwiderte Jonas. „Wie alt bist du und worin bist du am besten – und was war da außerdem noch?“
„Wenn du es unbedingt wissen willst“, sagte Troll, „ich bin dreizehn Jahre und zwei Monate und sieben Tage. Ungefähr jedenfalls. Und ich bin in keinem Fach am besten. Besonders nicht in Gymnastik, wo ich gern am besten wäre, damit jeder mich Schmetterling oder Sperber oder so was nennen würde. Einmal, als ich an der Sprossenwand hing, sagte die Lehrerin, daß ich wie eine Eule aussehe, aber das ist ja wohl nicht ganz dasselbe.“
Jonas lachte, und Troll freute sich. Der Papagei sah sie an. Er hatte vielleicht Heimweh nach seinem früheren Zuhause. Es war wohl auch nicht immer ein reines Vergnügen, ein Papagei zu sein.
Es begann dunkel zu werden, als der Bus leer und der Flur in Jonas’ neuer Wohnung voll war. Jonas und Troll seufzten gleichzeitig, und dann nahm Jonas einen Christstollen, eine Flasche Saft und eine Gitarre aus seinem grünen Rucksack.
„Christstollen!“ sagte Troll. „Im Oktober!“
„Christstollen ist doch etwas Feines“, erwiderte Jonas verwundert und zupfte an seiner Gitarre. „Wenn man Christstollen mag, kann man ihn wohl das ganze Jahr über essen, sooft man Appetit darauf hat. Christstollen ist übrigens das einzige, was mir an Weihnachten gefällt. Alles andere ist so anstrengend.“
Jonas saß genau innerhalb der Türschwelle und Troll genau außerhalb auf dem Steinfußboden des Treppenhauses. Es war ein prima Umzugsschmaus. Eine Frau, die die Treppe herunterkam, musterte sie neugierig und mißbilligend zugleich.
„Hätten Sie gern ein Stück Christstollen?“ fragte Jonas.
Sie antwortete nicht, sondern polterte nur die Treppe hinunter, daß die Räder ihres Einkaufswägelchens ratterten.
„Kannst du nicht etwas Schönes spielen?“ schlug Troll vor. „‚I do, I do, I do‘ vielleicht?“
„Nein, so was Komisches kann ich nicht. Zu Hause habe ich immer mit einem Freund zusammen gespielt. Ich war meistens für Baß und Refrain zuständig. Ja, Baß und Refrain, das bin ich.“
„Ach so“, sagte Troll. „Tschüs dann, Baß und Refrain, jetzt muß ich heim.“
Jonas nickte nur und zupfte weiter an seiner Gitarre. Er war wohl nicht gerade der Typ, der „bis bald“ sagt.
Er spielte und sang leise dazu: „Wir fahren in einem Boot nach Cytherae, mit dem Nachtwind als Segel, und keiner sieht uns dabei …“
Lustig klang das. Eigentlich sogar richtig schön, fand Troll.
Mein neuer Freund von nebenan
„Hallo, kleine Jennifer“, sagte Trolls Vater. Er saß an seinem braunen Schreibtisch und korrigierte Hefte. „Wo bist du gewesen?“
„Draußen“, erwiderte Troll.
„Ach, wirklich?“ murmelte ihr Vater, ohne aufzusehen.
Troll seufzte ein wenig und sah ihn an. Er war kahlköpfig bis auf einen Kranz von dünnen Haaren an den Seiten. Und er trug ein kariertes Hemd, das wenigstens nicht ganz hoffnungslos war. Glücklicherweise hatte er ja auch nicht so eine überkämmte Glatze wie jener Mann, der im Haus wohnte. Dieser Typ frisierte seine Haare vom einen Ohr über den Kopf und auf der anderen Seite wieder herunter. Troll und Liselotte beschatteten ihn einmal, als es windig draußen war, doch nichts geschah. Er strich sich bestimmt Fettcreme ins Haar. Trolls Mutter sagte stets, wenn sie ihn sah: „Besser eine ehrliche Glatze als eine überkämmte.“
Nun war sie gerade damit beschäftigt, das Abendessen zu richten. Es duftete nach Tomaten, Porree und verschiedenen anderen Gemüsesorten. Liselotte und Kent sollten abends kommen, und Trolls Mutter fürchtete immer, daß Liselotte nicht ordentlich aß, wo sie doch jetzt ein Baby erwartete.
Liselotte und Kent aßen wirklich nicht viel. Die einzige, die eine Menge verzehrte, war Trolls Mutter. Typisch. Sie, die eigentlich nur eine halbe Tomate zu sich nehmen sollte!
Liselotte seufzte während des Essens darüber, daß ihre elektrischen Lockenwickler kaputtgegangen waren.
„Daß du dich mit solchem Zeugs abgibst!“ sagte Troll. „Das werde ich bestimmt nie tun.“
Sie verschwand rasch in ihr Zimmer und schloß die Tür, sobald das Abendessen beendet war. Dort versuchte sie Jonas aus dem Gedächtnis zu zeichnen. Es klappte aber nicht so recht.
Sie ärgerte sich richtig, als ihre Mutter rief, sie sollte doch wenigstens noch mit Tee trinken. Troll haßte Gebäck. Ihre Mutter hatte zu allem Überfluß auch noch so besonders ekelhafte Hörnchen gekauft, die wie kleine Staubsauger aussahen. Oder wie Fadenspulen.
Schließlich ging Troll doch ins Wohnzimmer, um Streit zu vermeiden, doch es war wirklich langweilig. Ihr Vater hielt einen kleinen Vortrag über die Ausgaben des Staates für das Gesundheitswesen. Kent saß auf dem. Ledersofa, ein Bein übers andere geschlagen, und hörte sehr höflich zu. Trolls Mutter suchte nach alten Fotografien, und während sie in einer Schublade kramte, hielt es Troll nicht länger aus.
Sie flüsterte Liselotte zu: „Du, heute hab ich einen Freund gefunden!“
Typisch, typisch! Gerade in dieser Sekunde waren zufälligerweise alle mäuschenstill. Kein Wort von Krankenhäusern oder Bildern oder etwas in dieser Art.
Und Trolls Geflüster fiel ungefähr siebenmal so laut aus wie sie es beabsichtigt hatte. Alle sperrten die Augen auf, und Trolls Mutter lächelte und tätschelte ihr die Hand.
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