Somit herrschte trotz allem eine gewisse Ordnung, was A.W. Dinesen sicherlich gefiel, als er eine Schule für seinen Sohn wählen musste.
In ihren ersten Jahren war die Schule in einem bescheidenen Gebäude in der Boldhusgade nahe am Frederiksholms Kanal untergebracht. Die Schülerzahlen stiegen aber so schnell, dass sie in andere großzügigere Räumlichkeiten in der vornehmen Store Kongensgade umziehen konnte. Mit ihrem Angebot des allerneuesten Standes auf dem Gebiet der Pädagogik wurde die Schule zu einer Modeerscheinung unter vornehmen und ehrgeizigen Eltern. Gleichzeitig richtete Carl Mariboe es klugerweise so ein, dass die Schule auch als militärische Vorschule für künftige Offiziere diente. Dadurch sicherte er der Schule einen anhaltenden Zustrom von Schülern, ungeachtet der pädagogischen Moden.
Wilhelm Dinesen hat keine Beschreibungen seiner Schulzeit hinterlassen, aber vor dem Hintergrund der Unterrichtspläne der Schule und anhand von Erinnerungen gleichaltriger Schüler lässt sich ein Eindruck von Wilhelm Dinesens Lehrern und ihren Unterrichtsmethoden gewinnen. In Geografie und Geschichte hatte er Herrn Ipsen. Er war ein »kleiner, dicker Mann von würdigem Aussehen, um seinen Hals trug er eine Schnur mit einem Lorgnon, das ihm ebenso oft auf dem Rücken wie vor der Brust baumelte«, schreibt der ehemalige Schüler Arthur Abrahams in seinen Erinnerungen. »Er hatte ein unglaublich hitziges Gemüt und konnte es in seiner Raserei so weit treiben, dass er sich selbst die Haare raufte und sich an den Ohren zog.«
Wenn sich dieser Zorn gegen einen undisziplinierten Schüler richtete, konnte es außerordentlich brutal zugehen. Es wurde dann ausgesprochen unangenehm, wie Abrahams sich erinnert: »Ipsen sitzt wie gewöhnlich da und hat die Landkarte vom Tisch bis unters Kinn gezogen. Vor ihm steht ein unglücklicher Sünder, der zum Thema deutsche Geografie aufgerufen ist. Ich kann diese Deutschland-Karte immer noch vor mir sehen; die Farben waren ziemlich blass, nur das kleine Fürstentum Reuß war mit einem sehr kräftigen Rot gekennzeichnet.
Ipsen: ›Wo liegt Halle?‹
Der Sünder streckt verlegen den Zeigefinger aus, deutet aber noch nicht auf die Karte.
Ipsen: ›Zeig es! Zum Teufel, zeig es!‹
Der Sünder nimmt allen Mut zusammen und setzt seinen Zeigefinger auf Reuß, aber im gleichen Moment bekommt er ein paar hinter die Ohren, dass er auf den Boden purzelt. Als er wieder auf den Beinen steht, sagt er in weinerlichem Ton: ›Ich habe herausgefunden, dass man nach Halle kommt, wenn man von Reuß eine gerade Linie auf der Karte nach oben zieht.‹
Ipsens einzige Antwort ist: ›Na siehst du, es hat geholfen!‹«
Bei dem dicken Ipsen mit der Nasenklemmen-Brille sollten Wilhelm Dinesen und seine Klassenkameraden Grundtvigs Historisk børnelærdom (Historisches Wissen für Kinder) auswendig lernen und dann im Unterricht aufsagen. Abrahams zufolge war dies leichter gesagt als getan, »denn es enthielt auf knapp zwanzig Seiten die gesamte Weltgeschichte. Es begann mit den Worten: ›Die ältesten Königreiche der Welt, die Aufsehen erregten, waren das assyrische in Asien und das ägyptische in Afrika.‹«
Das Heft enthielt auch so erbauliche Aussagen wie »Nero, dieser Abschaum, verfolgte die Christen.«
Einige Lehrer hatten mehr Humor als andere. Im Fach Schreiben hatte der kleine Wilhelm einen lebhaften Lehrer namens Eduard Bjerring. »Ein großer Teil der Unterrichtsstunde verging damit, dass der Lehrer Schreibfedern für die Schüler spitzen musste«, erinnert sich Abrahams. Die Federn verschlissen schnell und begannen zu klecksen. »Wenn es mitten in der Stunde ertönte: ›Herr Bjerring, meine Feder kleckst!‹, antwortete Bjerring stets mit unerschütterlicher Ruhe: ›Dann klecks zurück, mein Freund!‹«
An Mariboes Schule gab es ungefähr zweihundert Schüler und gut dreißig Lehrer. Die Tage waren lang. In der ersten Klasse hatte Wilhelm zweiunddreißig Stunden Unterricht in der Woche, in den höheren Klassen zweiundvierzig. Ab der ersten Klasse wurden Dinesen und seine Kameraden in Dänisch, Deutsch, Französisch, Englisch, Geschichte, Geografie, Geometrie, Arithmetik, Naturlehre, Naturgeschichte, Schreiben und Zeichnen unterrichtet.
In den Unterrichtspausen auf dem Schulhof ging es lebhaft zu. Einer der berühmtesten Absolventen der Schule, der Dichter und Schriftsteller Holger Drachmann, schrieb, dass die meisten Schüler »lebhafte Jungens« waren. In den Pausen »prügelten wir uns, schlossen Freundschaften ... und es wurden alle möglichen Streiche ausgeheckt. Es war eine richtige Jungenschule«. Und wie er sich erinnert, war es auch in erster Linie »eine aristokratische Schule«. Der dänische Kronprinz und der spätere König von Griechenland besuchten ebenfalls diese Schule.
Wilhelm Dinesen hatte keinen weiten Schulweg. Sein Vater hatte wie erwähnt ein Haus in der Kronprinsessegade gekauft. Es lag so nahe an der Schule, dass Wilhelm nur die Dronningens Tværgade hinuntergehen und dann links in die Store Kongensgade einbiegen musste, und schon war er da.
Die Kronprinsessegade war – natürlich – eine der exklusivsten Straßen der Stadt. Sie war bekannt für ihre dreistöckigen Gebäude in harmonischem, klassizistischem Stil mit ebenmäßigen Fassaden. Die Gebäude waren nach der großen Feuersbrunst Kopenhagens im Jahr 1795 erbaut worden. In der Kronprinsessegade schien das lärmende, überfüllte, von Menschen wimmelnde Kopenhagen weit weg zu sein.
Von den Wohnungen in den obersten Etagen hatte man Aussicht auf Schloss Rosenborg und auf etwas ganz Ungewöhnliches, eine Grünanlage mitten in der Stadt – Kongens Have, ein großer, einladender Park. Man konnte ihn direkt von der Kronprinsessegade aus betreten. Entlang des Gitters, das den Park umgab, standen etliche Verkaufsbuden, die von rechtschaffenen Händlern betrieben wurden. Der Aufsichtsbeamte für städtische Ordnung hatte dafür gesorgt, dass Kneipenwirte, Lebensmittelhändler, Bierzapfer, Schlachter oder andere, deren Gewerbe Lärm oder Geruch verursachten, in der Kronprinsessegade keinen Handel treiben durften.
Die wohlhabenden Bürger wetteiferten darum, in der Kronprinsessegade zu wohnen. Wer etwas auf sich hielt – geachtete Großhändler, Bankiers, Kammerherren, Generäle, Kapitäne, angesehene Professoren, berühmte und finanziell gut gestellte Künstler sowie bekannte Politiker –, zog in diese Straße. Auch der Gutsbesitzerstand und der Adel, zu deren Mitgliedern oft Kammerherren, Offiziere und Politiker zählten, sorgten dafür, dass sie ihre Winterwohnungen in diesen Prachtbauten bekamen. Hier gab es hohe, helle Zimmer, kassettierte Wände, getäfelte Balustraden, vergoldete Simse, Deckenrosetten und Suiten.
Für die Familie Dinesen begann die Wintersaison einige Wochen nach den großen Herbstjagden. Dann fuhr die gesamte Familie mit dem Schiff von Grenaa nach Kopenhagen. Hier nahm man in den Wintermonaten an einer Fülle von Gesellschaften, Bällen, Konzerten und Besuchen im Königlichen Theater teil. Man unternahm Spaziergänge auf den Wällen und an Langelinje entlang, und die jüngeren Familienmitglieder betätigten sich im Schlittschuhlaufen und Fechten.
Karen Blixen beschrieb später in ihrer Erzählung »Ib und Adelaide«, wie eine solche Wintersaison in Kopenhagen für den Gutsbesitzerstand verlief. Historikern zufolge zeichnet ihre Beschreibung ungeachtet aller Poesie ein treffendes und wirklichkeitsnahes Bild des damaligen gesellschaftlichen Lebens:
»Sozial und gesellschaftlich gesehen war die Saison von der Eroberung Kopenhagens durch den Landadel geprägt ... Alte graue und rote Palais in den Straßen und an den Plätzen, die in der Weihnachtszeit blind und stumm gewesen waren, begannen sich zu rühren und öffneten die Fenster. Sie wurden vom Keller bis zum Dachboden geheizt, gereinigt und gewienert und strahlten an festlichen Abenden durch doppelte Reihen hoher Fenster mit karmesin- und rosenroten Seidengardinen hinaus in eine dunkle und eiskalte äußere Welt. Schwere Tore, die monatelang verriegelt gewesen waren, wurden geöffnet, um feurige, schnaubende Pferdegespanne hinauszulassen, die auf dem Seeweg aus Jütland und von den Inseln hergebracht worden waren. Auf den Kutschböcken der Landauer und Coupés unerschütterliche Kutscher in pelzgefütterten Umhängen. An den Livreen konnten die Kopenhagener auf der Straße die glänzenden Fahrzeuge voneinander unterscheiden: Hier kamen die Danneskiolds, die Ahlefeldts, die Frijs und die Reedtz-Thotts auf dem Weg zum Hofe, zu den Theatern oder um sich gegenseitig zu besuchen. Ihre Karossen ließen auf der steinernen Brücke lange Funkenregen hinter sich. Alle Pferde trugen an den Stirnriemen sogenannte Blinker, die kleinen, glänzenden Scheiben, die dem Adel vorbehalten waren. Die alten Häuser bekamen neue Stimmen, Musik strömte in der Winternacht aus ihrem Innern. Nachtschwärmer blieben draußen stehen und hauchten in ihre kalten Hände. Und drinnen tanzten sie.
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