Er kratzte sich am Kopf. Schob sich mit langen Beinen vom Schreibtisch weg.
»Klar. Was für eine Story. Man kann, verdammt nochmal, einfach hineingehen, ist das nicht unglaublich?«
Sie hatte Lust, ihn zu fragen, was daran unglaublich war. Aber sie wusste, dass eine Retourkutsche kommen würde. Mit einem Hinweis auf den 11. September und dass man jetzt überall die Sicherheitsvorkehrungen verschärfen musste. Man konnte schließlich nicht wissen, ob nicht auch auf der Entbindungsstation Selbstmordattentäter herumliefen.
»Das kommt morgen auf die Titelseite«, fuhr er fort. »Das ist sonnenklar.«
»Hast du mit Kaiser gesprochen?« Sie fragte vorsichtig und wünschte, sie wäre eine Katze mit Samtpfoten.
Er sah sie verständnislos an.
»Der sitzt doch in Kopenhagen.«
Sie wollte gerade antworten, dass das Telefon bereits erfunden sei, als der Apparat auf seinem Schreibtisch schellte. Sie starrten ihn beide kurz an, dann griff er nach dem Hörer.
»Davidsen hier«, sagte er mit einem Konzentrat aus dem gesammelten Selbstvertrauen aller Männer in der Stimme.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und schaltete den PC ein, während sie mit halbem Ohr zuhörte. Die Luft schien schon bald aus seiner Stimme zu entweichen, sodass sie trocken und knapp wurde.
»Okay... okay. Aber... Aber...«
Das ganze Gespräch dauerte nicht länger als drei Minuten, und Davidsens Stimme erinnerte an einen brodelnden Vulkan kurz vor dem Ausbruch.
»Wie du meinst. Dann machen wir das so... Tschüss.«
Sie wollte sich klein machen. In den Computer kriechen oder zu der Maus werden, die geschützt unter ihrer Hand lag.
»Das war Kaiser«, sagte er mit derselben trockenen Stimme, aus der jeglicher Enthusiasmus verschwunden war. »Sieht ganz so aus, als ob du über die Sache berichtest. Eine Reporterin. Mit Sinn für Kinderfragen. Für Kinder und geistig Minderbemittelte. Und Frauen.«
Und Redakteure, dachte sie. Er glotzte sie an.
»Du hättest es mir zumindest gleich sagen können«, sagte er dann.
Am liebsten wäre sie ehrlich gewesen und hätte ihm gesagt, dass er, wenn es nach ihr ging, gern den ganzen Mist übernehmen und zurechtbiegen konnte, wie er wollte, und eine super Story daraus machen. Aber das wäre unprofessionell, dachte sie. Sie war Journalistin und in diesem Fall Nachrichtenreporterin, ob sie das wollte oder nicht. Außerdem ließ etwas an seinem Auftreten sie innerlich kochen.
»Dazu war keine Zeit«, sagte sie kurz und versuchte es mit kühler Freundlichkeit.
»Keine Zeit«, sagte er spöttisch. »Stimmt. Du hast wirklich keine Zeit, wenn du die Story für die Morgenausgabe fertig bekommen willst.«
Er griff nach dem Tonbandgerät, und sie ahnte mehr als sie wusste, dass er das Interview mit dem Krankenhaus löschte.
»Hör mal zu, Holger«, begann sie. »Ich habe nicht um den Job gebeten, verstehst du? Ich brauche deine Hilfe.«
Aber von ihm, der jetzt ihr Konkurrent war, war keine Hilfe zu erwarten, ob ihr das recht war oder nicht.
Mit zitternden Händen suchte sie im Telefonbuch nach der Nummer des Krankenhauses. Ruhig und gefasst. Ruhig und gefasst, wiederholte sie, während sie die Seiten umblätterte. Sie hatten die Auflage, die Auskunft nicht mehr als nötig in Anspruch zu nehmen. Sie hatte gerade die Nummer gewählt, als Bo flötend hereinkam, seine Tasche auf das Sofa warf und ihr ein vergrößertes Foto unter die Nase hielt.
»Je t’aime.«
»Was?«
Bo zeigte auf das Foto.
»Sie sind von Je t’aime . Kennst du die Marke?«
Sie drückte auf die Gabel. Starrte das Foto an. Verwirrt, weil ihre Gedanken noch beim Krankenhaus waren.
»Das Handtuch«, sagte er freundlich. »Gute Qualität. Französisch.«
»Wo gibt es die?«
»Im Magasin«, lächelte er triumphierend. »Nur im Magasin. Meine Kusine arbeitet dort.«
Die Stimmen wanden sich in- und umeinander bis hoch in die Wölbung des Kirchenschiffs. Die Domkirche von Århus war für Brahms’ Requiem wie geschaffen.
Er sang. Spürte, wie sich die innere Uniform auflöste und er er selbst wurde. Nicht der Kriminalkommissar John Wagner, sondern der Bass John Wagner. Der singende Polizist, wie er im Polizeipräsidium genannt wurde, das wusste er. Aber es war ihm egal. Nein, vielleicht nicht ganz. Nicht, wenn er den Mangel an Respekt seitens der jungen Beamten spürte, aber das gab sich schnell. Anfangs begriffen sie nicht, dass man trotzdem tatkräftig und hart sein konnte, auch wenn man einem Hobby wie dem Singen in einem Chor nachging, sodass er hin und wieder ein Exempel statuieren musste. Sie verstanden nicht, dass es eine Stärke und keine Schwäche war, einen Ort zu haben, eine Insel für die Gefühle. Dass es ihn zu dem machte, der er war. Zu dem, der die Verantwortung trug und der sich nicht drückte. Der all das in einem Kasten verschließen konnte, dessen Existenz sie oft leugneten. So gewaltsam leugneten, dass sie die Abgestumpftheit an den Tag legten, die die Leute nur allzu oft mit der Polizei in Verbindung brachten.
»Selig sind, die da Leid tragen«, sang der Chor, und die Soprane waren hell und rein und versprachen himmlische Seligkeit mit Posaunen und Engeln. Die Mittelstimmen waren die tragenden und gaben Fülle, und die Bässe bildeten den Grund, während der Dirigent Blumen in der Luft zeichnete.
Er formte die Worte; mischte seine Stimme mit den Sopranen, Altstimmen und Tenören, sodass der Klang voll und schwebend wurde, sich des Raums bemächtigte und ihn forttrug.
Selig sind, die da Leid tragen.
Er ließ die Worte aus seinem Mund strömen und dachte an Nina. Spürte, wie seine Brust sich zusammenschnürte, dass es zugleich weh und gut tat. Es war jetzt ein halbes Jahr her, und er trauerte noch immer, das wusste er. Nicht nach außen hin. Aber in seinem Inneren. Ganz tief drinnen, wo nur die Musik hingelangte. Dieses zähe, dichte Requiem, das sie zu Weihnachten aufführen wollten und das ihn vom ersten Probentag an begleitete. Dessen Worte in diesen Tagen in ihm lebten. Tag und Nacht.
Nicht dass er Zeit hatte, zu allen Proben zu erscheinen, natürlich nicht. Hin und wieder hatte die Arbeit ihn auch an den Abenden gefordert, und außerdem war da Alexander. Was das anging, war es ein Geschenk, eine Schwester zu haben, die ein wenig weiter die Straße hinunter wohnte und einen Sohn im gleichen Alter hatte. Er wusste wirklich nicht, was er in den letzten Jahren ohne Hanne gemacht hätte.
Der Dirigent ließ die Arme sinken. Wandte sich an die Soprane.
»Hier brauchen wir einen fast überirdischen Klang. Piano pianissimo, steht da. Wie von einem Engelschor«, sagte er bildhaft. »Wir fangen bei E an.«
Die hellen Stimmen sangen. Sie hatten acht Soprane, ganz unterschiedlich im Charakter, aber jeder mit seiner ihm eigenen Stärke. Besonders ein Sopran war ihm aufgefallen. Nicht dass er die Frau kannte. Er hatte erst vor ein paar Monaten wieder im Chor zu singen begonnen, nach der Pause nach Ninas Krankheit. Aber sie und ihre Stimme hatten etwas so Reines, Zartes, dass es ihn mitten ins Herz traf.
»Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.
Selig sind, die da Sorge tragen, denn sie sollen Trost finden.«
Er hoffte, dass das stimmte. Wusste in seinem tiefsten Inneren, dass eines Tages der Punkt kommen würde, wo die Trauer nachließ. Sie würde immer da sein, in gleichem Umfang, aber vielleicht mit ein wenig mehr Freude durchsetzt. Ein wenig mehr Leichtigkeit, wie wenn die Soprane sangen und das Dunkel sich lichtete.
Zumindest hatte er die Musik, die ein Trost in sich war. Eine Stärke. Und die konnte vonnöten sein, auch wenn er an all das andere dachte. Das, was in den letzten Tagen auf seinem Schreibtisch gelandet war, und das ausreichte, um jeden verantwortungsbewussten Polizisten zu stressen. Das Rätsel um das Kind auf dem Fluss und jetzt das Problem auf der Entbindungsstation des Krankenhauses.
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