»Ich kann es auf einem neuen Abzug vergrößern«, bot er an. »Vielleicht ist es einen Versuch wert.«
Sie nickte. Sah ihn an und fragte sich, warum gerade dieser vernachlässigt aussehende Mann in ihrem Leben aufgetaucht war. Ob ein Sinn dahinter steckte. Ob sich jetzt herausstellen sollte, dass sie in Wirklichkeit genauso schwach war wie Torsten. Genauso in Panik geriet angesichts ihres Alters und ihres Lebens mit all seinen losen Enden.
Dann schob sie den Gedanken weg.
»Es ist immer einen Versuch wert«, sagte sie.
»Schläfst du?«
Anders bewegte sich und murmelte irgendetwas. Anne beobachtete seinen Rücken. Den scharfen Winkel der Schulterblätter. Das kleine Muttermal an der äußersten Spitze, das so viel Ähnlichkeit mit Langeland hatte. Sie sah seinen tiefen Seufzer mehr als sie ihn hörte, und er schnitt ihr ins Herz. Er war müde. Ihrer müde. Müde zuzuhören. Aber gerade jetzt brauchte sie ihn, brauchte, dass er zuhörte. Sie spürte es so sicher wie damals, als sie gewusst hatte, dass sie mit Jacob schwanger war. Es hatte nicht anders sein können.
»Er war so klein«, sagte sie, wie sie es an diesem Tag und den vorhergehenden schon so oft gesagt hatte. »Er sah aus, als würde er schlafen. Er hatte dunkles Haar. Ganz schwarz. Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, warum? Während ich ihn auf dem Arm hielt, habe ich mich das gefragt. Warum? Das haben wir alle getan.«
Die Bilder fuhren in ihrem Kopf Karussell. Taten es seit dem Fund. Wie ein Film in einer Endlosschleife.
Anders gab nicht länger vor zu schlafen. Er drehte sich auf den Rücken. Er hätte sie zumindest in den Arm nehmen können, dachte sie. Ihr zeigen können, dass er sie verstand. Aber genau das tat er nicht. Jedenfalls verdächtigte sie ihn, es nicht zu tun.
»Jetzt musst du endlich aufhören, daran zu denken«, stöhnte er, und sie merkte, wie er sie im Halbdunkel musterte. Konnte seinen schläfrigen Blick aus den zufallenden Augen nahezu sehen. Die langen Wimpern auf der zarten Haut.
»Du hast doch nicht zum ersten Mal ein totes Kind gesehen.«
Die Worte kannte sie gut. Er fuhr mit seiner Logik und einem Gähner fort.
»Du kannst unmöglich alle unerwünschten Kinder dieser Welt retten.«
Nicht, dass er hart war. Da war sie sich sicher. Ganz im Gegenteil. Er hielt es nur nicht aus, darüber zu reden. Bekam richtiggehend Bauchschmerzen davon, sagte er, und jetzt musste sie aufhören. Sie konnte sowieso nichts ändern.
Aber sie konnte jetzt nicht aufhören. Irgendetwas in ihr schien ihn zwingen zu wollen. Wollte ihn umdrehen und ihm in die Augen sehen und zeigen, dass die Welt grausam und hässlich und widerwärtig war. Dass sie nicht aus der reinen Ästhetik bestand, mit der er im Symphonieorchester Mozart aus seiner Oboe herauszauberte. Aber Anders hatte sich mit den dunklen Seiten dieses Lebens immer schwer getan. Sie wusste, dass das damit zusammenhing, dass er seinen Vater gefunden hatte, als er sich erhängt hatte. Sie sollte aufhören. Verständnisvoll sein. Aber es wollte heraus.
»Er war noch warm«, erinnerte sie sich, und wieder spürte sie die Schwere des toten Kindes auf ihrem Arm. »Er war bestimmt erst wenige Minuten tot.«
»Anne!«
Er sagte es in einem Ton, als hätte sie etwas Ekliges beim Essen gesagt. Drehte ihr den Rücken zu und zog die Decke mit sich.
»Entschuldigung«, stieß sie hervor. »Ich kann es nicht lassen.«
In der Regel sagte sie nichts, wenn bei der Arbeit etwas Trauriges passierte. Wenn etwas schief lief. Wohl wissend, dass seine Welt eine andere war. Eine, die aus Schönheit bestand.
Sie wusste auch, dass er am liebsten an seiner romantischen Vorstellung von ihr als Hebamme festhalten wollte. Als wäre sie eine Art Engel, der kleine Kinder ebenso leicht und schmerzfrei in die Welt brachte wie der Storch. War er etwa nicht umgekippt, als Jacob geboren wurde? Hatte er etwa nicht anschließend erklärt, dass er nie mehr in seinem Leben einen Fuß in einen Kreißsaal setzen würde, weil das alle Mystik kaputtmache und alles so blutig und barsch erscheinen ließ. So unappetitlich, hätte er auch sagen können, aber das tat er dann doch nicht.
Sie hatte ihm erklärt, dass es nun einmal so war. Dass zu einer Geburt auch Blut und Schleim gehörten und alles, was aus menschlichen Öffnungen kommen konnte. Aber mitten in dem Schmerz war auch eine Schönheit und gerade deshalb etwas fast Heiliges. Trotzdem war ihm die Lust auf Sex drei Monate lang vergangen, weil er ihren Körper plötzlich mit einem Albtraum aus Schreien und Blut und Schmerz verbunden hatte.
Sie musste fast lächeln, wie sie da auf ihrer Seite lag und daran zurückdachte.
Anders, der Kriegsdienstverweigerer aus Hobro, der nicht einmal eine Spinne totschlagen und kein Blut sehen konnte. Nicht einmal sein eigenes. In den sie sich verliebt hatte, als sie zusammen mit einer Freundin irrtümlich auf einem Fest des Musikinstituts gelandet war. Der schöne Anders mit den schlanken Fingern und der zarten Haut. Seine Augen waren weich wie geschmolzene Schokolade und vielleicht, hatte sie manchmal gedacht, hatte der liebe Gott sich vorgestellt, dass ein Mädchen aus ihm hätte werden sollen. Durch ein Spiel des Schicksals war er als Junge aus dem Schoß seiner Mutter gekommen, und es schien, als würde er viel Zeit darauf verwenden, seine Maskulinität zu unterstreichen, indem er Lederhosen und Cowboystiefel trug und sich wie ein Cowboy bewegte, der gerade aus dem Sattel gestiegen war. Aber die Empfindsamkeit konnten auch die gröbsten Nieten auf der Jeansjacke ihm nicht nehmen. Von ihr lebte er auch, und er pflegte seine Halsentzündungen und seine Erkältungen wie andere ihren Ziergarten.
Sie seufzte gegen die Seidenhaut seines Rückens. Atmete seinen Duft ein. In der Regel hatte sie Nachsicht mit ihm, denn er konnte zaubern. Wenn sie sich liebten, glich er einem Blinden. Als konzentrierten sich alle Sinne in den empfindsamen Fingerspitzen, die über ihren Körper wanderten. Und mit der Oboe an den Lippen konnte er einem Märchen Leben einhauchen und sie in eine Welt der Schönheit entführen.
Aber diese Welt war eine Illusion, dachte sie jetzt, als sie neben ihm lag. Sie hatte nichts mit der Wirklichkeit gemein. Nichts mit dem Kind auf dem Fluss.
»Sie haben ihn ins Gemeindekrankenhaus gebracht«, sagte sie leise, obwohl sie wusste, dass er dabei war einzuschlafen. »Ins pathologische Institut.«
Sie wollte noch hinzufügen, dass sie ihn sicher gleich obduziert hatten, aber das würde Anders nicht verkraften. Eigentlich konnte sie jeden Gedanken an Verständnis auch gleich aufgeben. An eine tröstende Schulter.
»Können wir jetzt nicht endlich schlafen?«, gähnte er. »Ich habe morgen einen langen Probentag.«
Und abends ein Konzert, hätte sie hinzufügen können. Denn das war die Realität, in der es unmöglich war, genügend Zeit zu finden, um zwei verschiedene Jobs miteinander in Einklang zu bringen. Jacob war jetzt sechs und ging glücklicherweise nach der Schule in den Hort, wenn weder sie noch Anders zu Hause waren. Aber es war und blieb ein Puzzlespiel. Vor allem wenn sie Abendschicht hatte und Anders in einem Konzert spielte. Dann blieb als Lösung nur die Schwiegermutter, die sich gut dafür bezahlen ließ. Nicht in Geld natürlich, sondern in Worten. Es gab keine Grenzen für das, was Anne sich über die Krankheiten der Schwiegermutter anhören musste. Aber so war es nun einmal, wenn die Leute glaubten, dass man fast eine Ärztin war.
»Gute Nacht, mein Schatz«, kam es bestimmt von Anders’ Rücken.
Die Gedanken schwirrten ihr noch eine Weile durch den Kopf, dann lösten sie sich allmählich in traumhafte Gebilde auf.
Sie wälzte sich im Bett. Spürte den Drang, sich an ihn zu kuscheln und an ihm festzusaugen und zu versichern, dass sie noch immer einander hatten und dass sie sich immer wieder zusammenrauften. Dass sie einander eine Stütze waren. Aber vielleicht war das eine Illusion, ebenso, wie seine Welt der Schönheit eine war. Vielleicht suchte sie nach Kräften, die er nicht hatte und nie gehabt hatte.
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