Fräulein Zimmer flatterte in einem hellen Sommerkleid mit hochgeröteten Wangen schon vom frühen Morgen an aufgeregt hin und her. Daß auch die Mädchen an gar nichts dachten! Seit die vergangenen Sonntag mit dem jungen Menschen von nebenan, dem Albert von Hippelts, aus gewesen waren, hatten sie noch die letzten paar armseligen Gedanken verloren. Natürlich beim Tanz. Glienicke, Stolpe, Birkenwerder, Schützenhaus, Schönfließ, Waldschlößchen – man sollte es nicht für möglich halten, die ganze Gegend war schon verseucht mit Tanzlokalen. Sonst trauten die Mädchen sich abends nicht mehr bis an die Gartenpforte, aber da liefen sie mitten in der Nacht durch den dicksten Forst!
Fräulein Zimmer war sehr ärgerlich; sie hatte Grund, über ihre Mädchen zu klagen. Selbst die Einäugige, in deren Zeugnis als besonderes Lob stand: »Sehr häuslich und solide«, war hier wie losgelassen. Von der siebzehnjährigen Grete, der die Augen im Kopf glitzerten, hätte man’s schon eher annehmen können – »Jotte doch, Fräulein, man will einmal die Woche doch was anderes sehen, als man bloß immer die ollen Kiefern!« – aber daß diese einäugige alte Person sich mit dem jungen Menschen von nebenan so einlassen würde! Schon wieder stand sie am Küchenfenster und schielte hinüber in den Garten, wo der Bursche mit der Gießkanne den Rasen sprengte. Einen Schlauch hatten Hippelts nicht, dazu waren sie zu geizig.
»Pst, Sie, Albert!« Die Köchin winkte ihm mit einem kalten Kotelett.
»Aber Ida!« Die Zimmer rief es sehr scharf. Und doch mußte auch sie den Albert heranrufen. Der Tisch unten im Eßzimmer, an dem sie und Herr Doktor sich gegenüber zu sitzen pflegten, genügte nicht für die vielen Menschen, eine Platte mußte eingelegt werden. Der Tisch war verquollen, vergebens strengten sich die drei Frauen an: Albert schaffte es mit einem Ruck.
Fräulein Zimmer sah erst heute, daß er ein hübscher Mensch war. Und, merkwürdig, sah er nicht trotzdem dem alten Hippelt ein wenig ähnlich? Dieselben verschlagen blickenden Augen. Worin sonst die Ähnlichkeit bestand, konnte man eigentlich nicht sagen, der junge Mensch hatte auch eine so viel größere Gestalt. Schade, daß ihm grade vorn ein Zahn fehlte! Das fiel ordentlich auf. Sollte es wirklich wahr sein, was die Mädchen neulich hatten munkeln hören: Der Diener wäre ein leibhaftiger Sohn vom reichen Hippelt?
Der Bursche stand noch da und ließ seine Augen im Zimmer umherstreichen. Da drückte ihm das Fräulein ein Trinkgeld in die Hand. »Sind Sie nicht eigentlich verwandt mit unserem Nachbar, dem Herrn Hippelt?«
Der junge Mensch lachte laut auf. Aber dann, sich zusammennehmend, verbeugte er sich: »Danke, bestens. Nein, wär ich’s man! Ich putze nur dem Alten die Stiefeln und fege seinen Dreck aus. Meine Mutter war ’ne arme Waschfrau und mein Vater –!« Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Leben Ihre Eltern denn nicht mehr?«
»Warum meinen Fräulein das? Weil ich hier beim alten Hippelt konditioniere? Na«, er zuckte die Achseln, »man muß doch verdienen. Viel is ’s ja nicht, aber man hofft doch, er wird zulegen. Er muß zulegen. Und denn, Fräulein –« er schoß einen auffunkelnden Blick durchs offene Fenster hinaus – »ich bin sehr für die Freiheit. Wenn Fräulein wieder mal was zu helfen haben«, schloß er unvermittelt an, »ich helfe sehr gerne. Nur daß es der Alte nicht merkt, der denkt sonst schon gleich, man stiehlt ihm was von seiner Zeit!«
Da konnte Herr Hippelt ruhig sein, sie würde seinen Diener nicht weiter in Anspruch nehmen. Fräulein Zimmer beschloß, den jungen Menschen nicht zu oft heranzuziehen; obgleich er ihr ganz gut gefiel. Und daß ein so gewandter Mensch es aushielt bei dem alten Geizkragen!
Pünktlich um zwölf war der Regierungsrat mit seiner Familie erschienen. Schon von weitem hörte man die Stimmen der Kinder; der Großvater war zur Bahn gegangen, um sie abzuholen, sie hüpften an seiner Hand. Und der Schwiegertochter war es sehr heiß: in der Bahn war es auch so unerträglich warm gewesen.
Ihr Mann reichte ihr den Arm: nein, leider, hier gab es keine Elektrische, kein Auto, nicht einmal eine Droschke.
Der Regierungsrat empfand auch die drückende Wärme der Mittagsstunde. Zwischen den Kiefern lastete die Luft; aber er mühte sich, es den Vater nicht fühlen zu lassen, welch ein Opfer dieser Besuch war.
Verstohlen drückte er den Arm seiner Frau: »Liebste Hilda, laß es ihn nicht merken, bitte! Gleich sind wir ja auch da!«
Und die schöne Frau in dem zartlila Kleid nahm sich wirklich zusammen und hatte nur ein mattes, leisspöttisches Lächeln für den Enthusiasmus, den ihr Mann sich aufzubringen mühte.
»Köstlich, wie die Kiefern jetzt duften! Da kann man schon eine Portion Hitze mit in Kauf nehmen. Ein herrlicher Geruch – das reine Fichtennadelbad!« So lobte er, bis sie im Haus am Kieferngrund waren. Aber als der Vater sie dann verlassen hatte, und er mit seiner Frau in einem kühlen, durch Läden geschützten Zimmer war, ließ er sich mit einem so tiefen Seufzer auf einen Stuhl fallen, daß die Hausdame, die der jungen Frau beim Ablegen half, sich förmlich erschreckte: fühlte der Herr Regierungsrat sich nicht wohl?
»Hören Sie mal, Fräulein Zimmer, ist das hier immer so um die Mittagszeit? Die Kiefern geben Öl und der Mensch auch. Wie hält das der Vater bloß aus?!«
»Herr Doktor ist um diese Zeit immer draußen, bei seinen Blumen. Erst nach dem Essen legt er sich ein bißchen hin.«
»Essen wir bald, Fräulein Zimmer?« fragte die ganz abgemattete Frau. »Ich werde das auch tun, mich hinlegen.« –
Es war gut gekocht, die junge Frau hätte gern gegessen, aber sie konnte nicht, die Anstrengung hatte ihr allen Appetit genommen. Und die Kinder waren schlaftrunken; als das kleine Mädchen nicht nochmals von der süßen Speise bekam, wurde es weinerlich, und der Junge schlug ungezogen auf den Tisch: »Ich will aber!«
Der Großvater machte ein undurchdringlich ernstes Gesicht. Die Mutter entschuldigte: »Die Kinder sind eben übermüdet – wir auch – wir werden alle nach Tisch schlafen!«
Nun hatte er Kinder und Enkelkinder draußen und war doch so einsam wie alle Tage! Fräulein Julie Zimmer sah dem Doktor mit Bedauern nach. Da ging er eben in den Garten, die Zeitung unterm Arm, in der Hand die Zigarrenkiste – der arme Mann! Er mochte wohl gedacht haben, der Sohn würde ihn begleiten auf sein Lieblingsplätzchen unter der breitästigen Kiefer. Aber der Regierungsrat war bei seiner schönen Frau.
Eine schläfrige Stille lag über dem Kieferngrund; nur ab und zu gurrte ein Tauber, und vom Hühnerhof her gackelte ein Huhn. Erst als der Kaffee serviert war in der Veranda, die nun im Schatten lag, kam langsam einer nach dem andern zum Vorschein.
Die Zimmer verstand es wirklich, einen Kaffeetisch herzurichten; frischgebackene Waffeln, ein Napfkuchen, reichlich mit Rosinen und Zitronat durchwürzt, und dicke süße Sahne in einem schön geblümten vergoldeten Kännchen. Der Regierungsrat hob das vorsichtig am Henkel in die Höhe und guckte nach dem Zeichen: »Altberliner Porzellan. Daß mir das nur ja in acht genommen wird!« Er lachte. »Das wollen wir mal unversehrt erben, Zimmerchen. Selten hübsch – eine Erinnerung an Alt-Berlin!«
»Und an deine Mutter«, sagte der Doktor. »Ja, wie lebhaft so ein lebloses Stück an einen geliebten Menschen erinnert!« War nicht etwas wie bitterer Hohn in des Doktors Stimme?
»Schade, daß nicht mehr davon da ist«, sagte ganz unbefangen die junge Frau. »Altberliner habe ich mir immer gewünscht; ich finde es viel hübscher als Meißner!«
»Nimm es dir nur mit!« Der Doktor schob das Kännchen über den Tisch, daß die Sahne spritzte.
»Aber lieber Papa!« Die Schwiegertochter wurde ganz verlegen: so hatte sie’s doch nicht gemeint, daß sie, weil ihr das Kännchen so gut gefiel, es auch gleich haben wollte.
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