Befreit von den normalen Zwängen des Lebens, begannen die Gefangenen, sich weiterzubilden, und ließen dabei den Spaß nicht zu kurz kommen. „Die Aktivitäten wurden so sehr ausgeweitet, verbessert, vielgliedrig gemacht und verfeinert, bis aus Ruhleben eine eigene Welt wurde“, schrieb der Journalist Israel Cohen, ebenfalls ein Insasse. „Das war unumgänglich, wenn wir fit bleiben und uns vor Langeweile und Trägheit schützen wollten.“ Es gab Kurse in Analysis, Elementarphysik, anorganischer und organischer Chemie, über Radioaktivität, in Vererbungslehre, Biologie, Musik, Literatur, darunter Kurse zu deutscher Literatur (auf Deutsch), italienischer Literatur (auf Italienisch), über Shakespeare und über Euripides. Man gründete ein Theater mit einem Berufsorchester und zog Music-Hall-Shows auf, wobei die Darsteller von Frauen besondere Popularität genossen.
Nur einen Tag nach Eröffnung des Lagers hatte man bereits erstmals zum Spaß gekickt, und innerhalb von zwei Wochen waren Mannschaften namens Tottenham Hotspurs, Manchester Rangers und Bolton Wanderers entstanden. „Es gab nur einen einzigen Fußball, und der war nicht besonders robust“, erinnerte sich Cohen. Die Tore wurden mittels „aufgetürmter Jacken“ markiert. Lagerkommandant General von Kessel missbilligte das Fußballspielen, und mit Anbruch des Winters wurde der boomende Ligabetrieb ausgesetzt. Bis zum Frühjahr indessen scheint von Kessel seine Meinung geändert zu haben. Er stellte eine freie Fläche neben dem Lager zur Verfügung, auf der zwei Spielfelder abgekreidet wurden. Pentland, Bloomer und Cameron gründeten die Ruhleben Football Association, ihren eigenen Fußballverband. Die erste Partie nach deren Regeln fand am 29. März 1915 zwischen Ruhleben mit Kapitän Bloomer und „dem Rest“ mit einem gewissen Mr. Richards als Mannschaftsführer statt.
„Die Form in diesem Spiel war so gut, dass jedermann sehen konnte, dass der Fußball mit etwas Training ein recht hohes Niveau erreichen kann“, berichtete die Lagerzeitung. Am 2. Mai trat eine Englandauswahl mit Pentland, Wolstenholme und Bloomer gegen eine Weltauswahl mit Cameron als Kapitän an. Jede der 14 Baracken stellte zwei Teams für eine Liga, die so heiß umkämpft war und so begeistert verfolgt wurde, dass Zuschauerzahlen von über 1.000 nicht ungewöhnlich waren.
Im September 1915 brachte die Ruhleben Football Association ihr Handbuch heraus. „Unter großen Kosten und Mühen“ in Berlin gedruckt, kam es auf 48 Seiten und enthielt Spielerbiografien, Interviews mit Kapitänen und etwas Taktikdiskussion. Ronay schrieb: „Es war auf seine eigene Art ein Novum, war es doch das erste Mal, dass etwas geschrieben wurde, das einem Trainingshandbuch oder einem taktischen Leitfaden nahekam. Es war das Destillat des kopflastigen Intellektualismus der multidisziplinären Schule von Ruhleben. Die Ruhleben FA war vom literarischen Bazillus infiziert worden. Das Handbuch lässt erahnen, was die Folge hätte sein können, wenn der englische Fußball auch nur einen Funken des wilden Fortschrittsgeists, der zu den Spitzenzeiten in Ruhleben herrschte, übernommen hätte.“
Pentland lernte das Kurzpassspiel zu schätzen, mit dem er vermutlich schon in Blackburn in Berührung gekommen war. Doch Ronay stellt fest, dass es dafür kaum einen Beleg gibt und dass es mindestens ebenso wahrscheinlich ist, dass er in Ruhleben zu seinen Schlussfolgerungen über die richtige Spielweise im Fußball gekommen war. Die dortige Kultur förderte das Infragestellen alter Gepflogenheiten. Zudem gab es nur geringen Ergebnisdruck und keine Zuschauermassen, die lautstark forderten, den Ball nach vorne zu bolzen.
Nach dem Krieg kehrte Pentland nach Großbritannien zurück. Während seines Erholungsaufenthalts im Südwesten Englands heiratete er seine Krankenschwester, eine Kriegswitwe, die im Voluntary Aid Detachment tätig war. Allerdings ging Pentland schon bald wieder zurück auf den Kontinent und betreute die französische Mannschaft bei den Olympischen Spielen 1920. Nach einem Sieg gegen Italien im Viertelfinale unterlagen die Franzosen den Tschechoslowaken im Halbfinale und waren schon längst wieder daheim, als die Tschechoslowakei disqualifiziert wurde. So konnten sie nicht mehr um die Silbermedaille mitspielen, die am Ende von Spanien errungen wurde.
Danach zog es Pentland nach Spanien, zunächst zu Racing Santander und dann, angelockt von einem Monatsgehalt von 10.000 Peseten, zu Athletic Bilbao. Bei seiner ersten Trainingseinheit brachte er den Spielern zunächst bei, wie sie ihre Schuhe richtig schnürten: „Macht die einfachen Dinge richtig, und der Rest kommt von allein“, sagte er. Pentland schaffte die langen Bälle ab, auf die Barnes so stolz gewesen war, und trainierte stattdessen Kurzpassspiel. Auch wenn die Spielweise immer noch von der Entschlossenheit von La Furia geprägt sein mochte, war es ein Fußball, der überlegter und weniger druckvoll gespielt wurde. Pentland rauchte beim Training Zigarren und weigerte sich, seine Kleidung dem Klima anzupassen. Eine Fotografie von 1928 in El Norte Deportivo zeigt ihn mit ernstem Gesicht in einem schweren Mantel mit tadellos gefaltetem Taschentuch, um den Hals eine gepunktete Krawatte. Hinter seinem Oberlippenbart und seinem eisernen Blick lässt sich der Anflug eines ironischen Lächelns erkennen. Auf dem Kopf befindet sich selbstverständlich sein Markenzeichen, die Melone, die ihm auch seinen Spitznamen El Bombín bescherte. Pentland war eigenwillig und anspruchsvoll – und er hatte grandiosen Erfolg.
Athletic spielte mit leicht zurückgezogenen Halbstürmern und wurde unter Pentland zweimal in Folge baskischer Meister. Hinzu kam 1923 die Copa del Rey. Die Spieler von Athletic feierten ihre großen Erfolge, indem sie Pentland den Hut vom Kopf rissen und dann dar auf herumsprangen, bis er kaputt war. „Du hast nur noch drei Minuten, Melone!“, soll Pentland angeblich kurz vor Ende des Finales in der Copa del Rey gerufen haben.
Der Mann mit der Melone: Fred Pentland. Er führte bei Athletic Bilbao das Kurzpassspiel ein.
1925 ging Pentland zu Athletic Madrid (die Schreibweise Atlético wurde erst 1941 eingeführt) und führte den Klub ein Jahr später ins Finale der Copa del Rey. Danach wechselte er für eine Saison zu Real Oviedo und hinterher wieder zurück zu Athletic Madrid, wo er 1927 den Campeonato del Centro gewann, die Meisterschaft Zentralspaniens. Als England 1929 zum Spiel im Estadio Metropolitano in Madrid anreiste, war Pentland als Berater von Nationaltrainer José María Mateos tätig und trug seinen Teil zur Strategie beim 4:3-Erfolg der Spanier bei – Englands erster Niederlage gegen einen Gegner vom Kontinent. Noch im Laufe des Jahres 1929 wechselte Pentland von Madrid wieder nach Bilbao. Als er 1933 nach Madrid zurückkehrte, hatte er zwischenzeitlich zwei spanische Meisterschaften gefeiert, außerdem vier weitere Mal die Copa del Rey gewonnen und drei weitere Baskenland-Meisterschaften geholt. Zudem war er beim 12:1-Sieg seiner Mannschaft gegen den FC Barcelona dabei gewesen, bis heute Barças höchste Niederlage überhaupt.
Kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs verließ Pentland 1936 Spanien, arbeitete kurz als Assistenztrainer beim FC Brentford und trat dann beim AFC Barrow seinen einzigen Posten als Cheftrainer in England an. Wie so viele Pioniere der frühen Jahre – vor allem Jimmy Hogan – erfuhr Pentland in der Heimat keine Anerkennung. Bei Athletic Bilbao dagegen genießt er bis heute große Achtung als der Mann, der den Verein groß gemacht hat. 1959 wurde er für ein Abschiedsspiel gegen Chelsea noch einmal nach Bilbao eingeladen, wo er eine Medaille als Ehrenmitglied überreicht bekam. Als Pentland drei Jahre später starb, hielt Athletic im San Mamés eine Trauerfeier für ihn ab.
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