Jonathan Wilson
Outsider
Eine Geschichte des Torhüters
VERLAG DIE WERKSTATT
Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel „The Outsider.
A History of the Goalkeeper“ bei Orion Books, London.
Aus dem Englischen von Markus Montz.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
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Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.
Copyright © Jonathan Wilson, 2012
Copyright © 2014 Verlag Die Werkstatt GmbH
Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen
www.werkstatt-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt
Covergestaltung: Craig Fraser/Orion Books
ISBN 978-3-7307-0119-5
Inhalt Prolog 1. Der Zerstörer der ErnteDie Ursprünge des Fußballs / Der Torwart: ein relativ junges Phänomen / Korrupt, langsam, unmoralisch: die Stigmatisierung des Torhüters / William „Fatty“ Foulke und andere britische Torhüterlegenden der ersten Stunde 2. Lew Jaschin und seine NachfolgerDer Torhüter in Russland: ein einsamer Held / Nykolaj Trussewitsch und das „Todesspiel“ 1942 / Lew Jaschin – der größte Torhüter aller Zeiten? / Jaschins Erben: von Rinat Dassajew bis Igor Akinfejew 3. Ein Bankbeamter in FlanellhosenDer Torhüter in der britischen Kultur / Tragische Helden: Ferenc Plattkó und Co. / Der Göttliche: Ricardo Zamora / Understatement vs. Spektakel: britische und italienische Torhüter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts / Die Torhüter der Donauschule / „Ein guter Torwart wirft sich nicht“: Heiner Stuhlfauth vom 1. FC Nürnberg / Torwartpioniere in Südamerika 4. Der mitspielende TorhüterAntizipierendes vs. reaktives Torwartspiel / Gyula Grosics, der erste große Antizipationskeeper / Der mitspielende Torhüter im Totaalvoetbal und beim FC Barcelona / „El Loco“ René Higuita und andere Torwartexzentriker Lateinamerikas 5. Sündenböcke und FliegenfängerDer Torhüter in Brasilien: von Sündenbock Barbosa bis Legende Taffarel / Rassismus gegen Torhüter / „Nearly ten past Haffey“: das schottische Torwartproblem 6. Aufstieg und Fall des englischen TorhütersPflichtbewusst, zuverlässig und bescheiden: das Ideal des englischen Torhüters / Bert Trautmann: ein deutscher Torwartheld in England / Genickbrüche und Todesfälle: ein Torwart lebt gefährlich / Jan Tomaszewski: ein polnischer Clown besiegt England / Von Gordon Banks bis Peter Shilton: Englands goldenes Zeitalter / Ausländische Keeper in der englischen Liga / Pleiten, Pech und Pannen: David James und Co. 7. Tommy und Jo-JoThomas N’Kono und Joseph-Antoine Bell: zwei afrikanische Torwartlegenden / „Balletttänzer mit Händen aus Stahl“: der Jugoslawe Vladimir Beara und sein Einfluss auf das afrikanische Torwartspiel / Robert Mensah: der ghanaische Jaschin 8. GigantenLautstarker Däne: Peter Schmeichel / Von Dino Zoff bis Gianluigi Buffon: italienische Torhüterlegenden / Fußballgötter, Spaßvögel und Titanen: Torhüter in Deutschland / Der Aufstieg des US-Torwarts in den 1990er Jahren / Basken und Katalanen: Iker Casillas und seine Vorgänger 9. Die Angst vor Elfmetern und andere existenzialistische ZwickmühlenDer Elfmeter in der Literatur / Die Mathematik des Elfmeterschießens / Die Angst des Schützen vorm Elfmeter / Elfmeterkiller: Helmuth Duckadam und Stevan StojanoviĆ / Albert Camus und Co.: Literaten im Tor Epilog Bibliografie Danksagung Personenregister Bildnachweis Der Autor
„… von Glück und Menschen ganz verlassen, bewein ich einsam mein ausgestoßnes Los …“
William Shakespeare, Sonett 29, Vers 1–2
Prolog
Mein größter Augenblick im Sport? Ganz einfach: die letzte Minute in einem Schul-Hockeyspiel gegen Whickham, die einzige Mannschaft im Nordosten, die uns das Wasser reichen konnte. Es stand 0:0, und Whickham hatte eine Strafecke. Das Anspiel kam, zwei Verteidiger stürmten vor, und der Ball wurde vom gegnerischen Mittelfeldmann angenommen. Der hieß Robson und spielte in der englischen Jugendauswahl. Er holte erst zum Schlagschuss aus, entschied sich dann aber doch für einen Schlenzer. Währenddessen ging mir durch den Kopf, dass er außerhalb des Schusskreises war. Ich kann mich noch erinnern, wie der Ball rechts von mir an Höhe gewann und ich dachte, dass ich ihm zumindest hinterherhechten musste, selbst wenn Robson außerhalb des Schusskreises gewesen sein sollte. Alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen.
Ich überlegte, was das Reglement wohl vorsah, wenn er von außerhalb des Kreises geschossen hatte und der Ball von meinem Stock abprallte. Durch das Helmgitter konnte ich den roten Airtex-Ärmel meines Trikots, meinen dicken weißen Handschuh und das Schwarz und Blau meines Stocks sehen. Als ob ich alle Zeit der Welt hatte, winkelte ich den Stock mit einer Bewegung aus dem Handgelenk an, um den Ball abzufangen. Plötzlich kam die Verbindung von Pfosten und Querlatte in mein Blickfeld. Dann schlug der Ball ungefähr 15 Zentimeter vor dem Torwinkel gegen den Wulst des Stocks. Ich schaute kurz nach unten – auch hier kann ich mich noch genau an meinen Gedankengang erinnern – und war erschrocken, wie weit oben ich mich befand. Mein unmittelbar nächster Gedanke war, wie weh es wohl gleich tat, wenn ich auf dem Boden aufkam.
Es tat aber nicht weh. Zu den wenigen Vorteilen eines Hockey-Torwarts gehört, dass die komplette Vorderseite des Körpers durch fünf Zentimeter dicken, festen Schaumstoff geschützt ist. Ich konnte sehen, wie der Ball davonwirbelte und sich für den Bruchteil einer Sekunde niemand in dessen Richtung zu bewegen schien. In diesem Augenblick herrschte eine herrliche Stille, eine völlige Geräuschlosigkeit. Solch ein Gefühl hatte ich nie zuvor erlebt, und auch danach nur noch ein einziges Mal. Das war beim Cricket – bei einem Hechtsprung auf short midwicket , mit dem ich ein widerspenstiges ninth wicket partnership abschloss. Damit entschied ich eine Low-Scoring-Partie gegen die BBC zugunsten meines Örtchens aus Oxfordshire. Ich sah den Ball in meinen linken Handteller klatschen und dachte sogar kurz: „Genau wie in dem Spiel gegen Whickham!“ Dann schlug ich schmerzhaft auf Schulter und Hüfte auf.
Zwei Geschehnisse, zwölf Jahre auseinander. Für jemanden, der 30 Jahre lang durchschnittlich einmal pro Woche irgendeine Sportart betrieben hat, mag das nicht nach viel klingen. Aber zumindest habe ich dieses Gefühl schon mal selbst erlebt. Ich bin mir sicher, dass richtige Sportler regelmäßig das Gefühl haben, dass die Zeit langsamer abläuft und sie alles unter Kontrolle haben. Ajax Amsterdams Trainer David Endt meinte einmal dazu: „Die Sekunden der ganz Großen dauern länger als die normaler Menschen.“ Es gibt Belege dafür, dass das Gefühl von Kontrolle täuscht, dass es eine Erfindung des Gehirns ist, um sich einen Reflex, der eigentlich in den Muskeln seinen Ausgang nimmt, zu erklären. Wo auch immer das Ganze herkommen mag – ein Gefühl von Kontrolle über kleinste und wahnsinnig schnell ablaufende Veränderungen scheint zentraler Bestandteil sportlicher Höchstleistungen zu sein.
Die Besten der Besten haben dieses Gefühl wohl die meiste Zeit. Beim ersten Mal dachte ich, dass es ein Zustand für die Ewigkeit sei, dass ich durch mein Training nun vielleicht ein Niveau erreicht hatte, auf dem die Zeit und meine Reflexe eine harmonische Einheit bildeten. Ich erläuterte diese Möglichkeit sogar abends im Kleinbus auf dem Weg zu einer Lateinvorlesung in York in einer für meine Zuhörer wohl äußerst ermüdenden Breite. Interessiert hat es keinen. Ich kam mir vor wie die Hobbits, die ins Auenland zurückkehren, wo ein jeder viel zu sehr mit seinem eigenen, alltäglichen Leben beschäftigt ist, um sich für ihre Abenteuer zu interessieren. Aber wer wusste denn schon, welche Höhen ich noch erklimmen konnte? Wenn ich sogar den Schlenzer eines Mittelfeldspielers der englischen Nationalmannschaft aus dem Winkel pflücken konnte, was sollte mich dann noch auf meinem Weg in die englische Auswahl aufhalten?
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