Einige Tage darauf sei er durch die Stadt gegangen und dort zufällig einem „sportbegeisterten Wirt“ begegnet. Zwar war unser Torhüter ein enthaltsamer Zeitgenosse, doch „er brachte mich dazu, in ein Wirtshaus am Wegesrande zu gehen und auf ein erfolgreiches Spiel zu trinken, und nachdem ich eine Limonade getrunken hatte, war meine Erinnerung vollkommen fort.“ Als er wieder zu sich gekommen sei, habe er sich in einer kleinen Kammer befunden, „zusammen mit zwei kräftig aussehenden Männern“. Durch das Fenster habe er nichts als raues Moorland sehen können. Nachdem sie ihn verlassen und die Tür abgeschlossen hätten, habe er sein „stabiles Taschenmesser“ herausgeholt und den Mörtel am Fenster abgemeißelt, bis er es abnehmen und die Flucht ergreifen konnte.
Irgendwann habe er in der Dunkelheit den Lärm eines Zuges gehört und sich auf das Geräusch zubewegt. So sei er an eine kleine Bahnstation gelangt. Dort angekommen, habe er den Stationsvorsteher geweckt und ein Sofa zum Schlafen bekommen. Am nächsten Morgen habe er ein Telegramm an den Klubsekretär geschickt, der daraufhin gekommen sei, um ihn abzuholen. Da nun sei einer der Entführer aufgetaucht. Der Stationsvorsteher habe diesen überwältigt und der Entführer in seiner Panik das Komplott gestanden. Demnach sei der Mittelstürmer von B bereits bestochen gewesen; zudem war der zweite Torhüter verletzt. Der Wirt nun habe eine größere Summe des Geldes auf B gesetzt – und zwar auf eine Niederlage. Damit dieses Ergebnis auch wirklich eintrat, hätte er nur noch den ersten Torhüter aus dem Weg räumen müssen. Der Wirt habe später, konfrontiert mit den Beweisen, alles zugegeben und sich aus B abgesetzt, nach Zahlung von 20 Pfund für eine wohltätige Organisation und zehn Pfund an den Klub für dessen Auslagen. Der Torhüter habe den Verein dringend gebeten, Erbarmen mit dem Mittelstürmer zu haben. Der habe danach natürlich glänzend gespielt und der Verein sowohl Halbfinale wie auch Finale gewonnen.
Diese Geschichte klingt zugegebenermaßen nicht sonderlich überzeugend. Eigentlich liest sie sich eher wie eine der weniger plausiblen Geschichten von Enid Blyton als ein Tatsachenbericht. Der Versuch, anonym zu bleiben, ist außerdem lächerlich durchschaubar. Bis 1898 hatten nur zwei Klubs mit dem Anfangsbuchstaben B den FA-Pokal gewonnen: 1883 Blackburn Olympic und 1884, 1885, 1886, 1890 und 1891 die Blackburn Rovers. Für England hatte aber nur ein Torwart der beiden Mannschaften gespielt: Herby Arthur. Nähme man diese Geschichte für bare Münze, bliebe noch die Frage, welches von den drei Endspielen, in denen er antrat, gemeint ist. Am wahrscheinlichsten ist das Finale 1885. Damals schlug Blackburn im Halbfinale in Nottingham die Old Carthusians mit 5:1. Möglich wäre auch das Endspiel 1886, als man in Derby 2:1 gegen die Slough Swifts gewann. Es scheint plausibel, dass das Training für Spiele in den East Midlands in Sheffield stattfand – vorausgesetzt, Sheffield war die besagte „Stadt der Schneidwaren“. Vor einem Match in Birmingham, Spielort des Halbfinales 1884, hätte das hingegen kaum Sinn ergeben.
Unabhängig davon, ob die Anekdote stimmt oder nicht, zeigt sie einen weiteren Grund, warum Torhütern mit Misstrauen begegnet wurde: Sie galten als bestechlich. Wollte man ein Spiel manipulieren und dabei nur einen einzigen Spieler bestechen, konnte das natürlich nur der Torhüter sein. Wer sonst hat schließlich einen so großen und unmittelbaren Einfluss darauf, ob Tore fallen oder eben nicht? Wer versteht das Torhüterspiel schon so gut, dass er genau sagen kann, wann ein kurzes Zögern bei der Hereingabe einer Flanke, ein Fallenlassen des Balles nach dem Fangen oder ein zu später Hechtsprung falsches oder einfach schlechtes Spiel waren? Torhüter sind daher immer auch Ziel von Wettbetrügern gewesen.
Schon lange vor seinem Geständnis hatte Arthur wegen eines Vorfalls in einer Partie gegen Burnley im Dezember 1891 traurige Berühmtheit erlangt. Das Wetter war furchtbar, und Burnley führte zur Pause mit 3:0. Daran änderten auch Arthurs Versuche nichts, den Schiedsrichter hinters Licht zu führen und so zu tun, als ob der Ball beim dritten Tor knapp danebengegangen sei. Arthur hatte den Ball einfach von außerhalb des Netzes wieder auf den Platz gelöffelt und vorgegeben, nun den Abstoß ausführen zu wollen. Blackburn bot daraufhin an, das Spiel kampflos aufzugeben, aber Burnley bestand auf Weiterspielen. Das tat Blackburn derart widerwillig, dass vier seiner Spieler den Wiederanpfiff verpassten, weil sie noch in der Umkleidekabine herumgammelten. Später gerieten noch Joseph Lofthouse von Blackburn und Alexander Stewart von Burnley aneinander und wurden beide des Feldes verwiesen. Die restliche Mannschaft Blackburns beschloss daraufhin, ebenfalls den Platz zu verlassen.
Das heißt: nicht die ganze restliche Mannschaft. Arthur nämlich harrte in Kälte und Regen aus und nahm es alleine mit Burnley auf. „Der ganzen Sache fehlte es nicht an einer gewissen Komik“, schrieb Rambler im Lancashire Evening Express . „Der Schiedsrichter blies zur Fortsetzung des Matches in seine Pfeife, und Burnley warf den Ball von der Seitenlinie her ein, also von dort, wo sich die Rauferei zugetragen hatte. Arthur rannte in die Richtung seines Tores, umgeben von Gegnern, und ich fragte mich, was er wohl zu tun gedachte. Wenige Meter vor dem Kasten hielt er an und reklamierte ganz gelassen ein Abseits. Von allen Seiten des Spielfeldes grüßte darauf stürmisches Gelächter.“ Der Schiedsrichter, ein gewisser Mr Clegg, gab den Freistoß. Die Absurdität des Ganzen tauchte Arthur dann in grelles Licht, als er diesen in das eigene Netz rollte. Daraufhin wurde das Spiel abgebrochen. Lofthouse und Stewart bekamen von der FA Sperren aufgebrummt, außerdem wurden neue Regularien eingeführt. Fortan war es den Spielern nicht mehr erlaubt, ohne Einverständnis des Schiedsrichters den Platz zu verlassen.
An Shearmans Darstellung des Torhüters fällt auf, dass er Hechten mit keinem Wort erwähnt. Offenbar glaubte er, dass es für einen Torhüter nichts Bewundernswerteres gäbe, als das Gleichgewicht zu halten. Da sich die Position des Torhüters am spätesten entwickelte, ist es durchaus verständlich, dass es ein wenig dauerte, bis er Hechtsprünge und Ähnliches in seinem Tor vollbrachte. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Kennedy – der Mann, den McAulay im Tor von Dumbarton ersetzte – den Spitznamen „Diver“ hatte. Man kann also davon ausgehen, dass er sich nach dem Ball warf und dass dies gleichzeitig so ungewöhnlich war, dass es ihn besonders charakterisierte.
Der große österreichische Journalist Willy Meisl, selbst ein recht angesehener Torhüter, schrieb in seinem 1956 erschienenen Buch Soccer Revolution , dass er 1899 zum ersten Mal Torhüter mit Absicht habe hechten sehen. „In dem Jahr kamen die ersten englischen Profis herüber [nach Österreich], der FC Southampton. Sie schlugen eine Wiener Stadtauswahl mit 6:0, und ihr Goalie, [Jack] Robinson, demonstrierte zum ersten Male, wie man niedrig fliegenden Schüssen begegnete, indem er mit größter Leichtigkeit durch die Luft flog.“ Infolgedessen wurde diese Art der Abwehr in Österreich – zumindest in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – als Robinsonade bekannt. „Nach dem Match bot Robinson noch eine Showeinlage. Sein Tor wurde gleichzeitig mit sechs Bällen bombardiert, und er hielt die meisten der Schüsse.“
Meisl verfasste sein Buch als Antwort auf Englands „Verfall und Untergang“ als Fußballnation – eine Entwicklung, die die 3:6-Niederlage gegen Ungarn 1953 unmissverständlich klargemacht hatte. Es war die erste Niederlage, die England gegen einen Gegner vom Kontinent hatte einstecken müssen. Der Torwart jener ungarischen Mannschaft war Gyula Grosics. Er war einer der ersten Torhüter, die nicht nur ihre Linie, sondern sogar den Sechzehner verließen. Für Grosics war Robinson eines von zwei prägenden englischen Vorbildern: „Moon von den Corinthians, Robinson und viele weitere weltberühmte englische Tormänner waren ja die Pioniere dieser Kunst. Sie wiesen allen europäischen Tormännern den Weg“, schrieb Grosics. „Die Tatsache, dass die Ungarn ihnen gute Schüler gewesen sind, haben sie vielfach unter Beweis gestellt. Man kann es an den Erfolgen ihrer Tormänner ablesen. Ich möchte unter meinen ausgezeichneten Vorgängern nur die Namen Ferenc Zsák und Ferenc Plattkó erwähnen, die den Bewegungsstil der englischen Tormänner nicht nur beherrscht haben, sondern ihn teilweise auch weiterentwickelten.“
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