Abnehmen, ohne anderen davon zu erzählen, den Rasierer auf dem Weg in die Schwimmbaddusche verstecken, schminken, als wäre alles von Natur aus so.
In ihrem Debütroman »Wie die Gorillas« beschreibt Esther Becker das Erwachsenwerden junger Frauen in einer Gesellschaft, die behauptet, alle könnten selbst bestimmen. Doch gehört sich Manches und Anderes nicht. Wo verlaufen die Grenzen zwischen ausgelebter Individualität und den Anstrengungen dazuzugehören? Wie soll der Körper aussehen, wie sich benehmen – ob beim Sportunterricht, in der Schule, unter Freundinnen oder in Beziehungen?
Lustvoll, pointiert, mit viel Humor und mit der Drastik, der es bedarf, erzählt Becker vom gesellschaftlichen Druck, der auf jungen Frauen lastet.
Esther Becker , geboren 1980 in Erlangen, lebt als Dramatikerin, Schriftstellerin und Performerin in Berlin. Sie studierte an der Hochschule der Künste Bern und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie veröffentlichte Texte in diversen Magazinen und Anthologien. Ihre Theatertexte (Verlag Felix Bloch Erben) wurden bereits mehrfach ausgezeichnet und in Deutschland und der Schweiz aufgeführt. Sie ist Mitglied der Theaterformation bigNOTWENDIGKEIT. »Wie die Gorillas« ist ihr Debütroman.
ESTHER BECKER
ROMAN
Erste Auflage
© Verbrecher Verlag 2021
www.verbrecherei.de
Satz: Christian Walter
Druck: CPI Clausen & Bosse, Leck
ISBN 978-3-95732-470-2
eISBN 978-3-95732-483-2
Der Verlag dankt Sophie Bölke, Johanna Seyfried, Annouk Spilker und Hannah Stangl .
I’ve got a perfect body, though sometimes I forget
I’ve got a perfect body cause my eyelashes catch my sweat yes, they do, they do
Regina Spektor
TEIL I I
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
TEIL II
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
TEIL III
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
TEIL IV
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
TEIL V
Kapitel 32
DANK
I
Zu viert müssen sie mich festhalten. Vielleicht auch zu fünft.
Ob ein Paar der vielen Hände zu meinem Vater gehört, ist nicht sicher, meine Augen sind fest verschlossen. Vielleicht sitzt er auch auf einem der stapelbaren Wartezimmerstühle und schaut zu.
Die übrigen Hände gehören meiner Ärztin und dem weiteren Praxispersonal, das einer nach dem anderen von ihren Posten herbeigerufen wurde. Meinetwegen.
Meinetwegen stehen sie alle zusammen in diesem kleinen Zimmer um mich herum und halten mich alle zusammen fest. Ich bin ein schwieriger Fall.
Ihre gemeinsame Aufgabe ist, mir pupillenerweiternde Augentropfen zu verabreichen, ohne die die ganze Untersuchung nicht beginnen kann.
Ich winde mich mit aller Kraft, sie halten meine Arme überkreuz am Rücken fest, damit ich nicht um mich schlagen kann, meine Füße treten ins Leere, ich sehe ja nichts. Eine Hand hält mein Kinn fest, eine andere meine Stirn. Meinen Kopf fixiert, machen sie sich daran, mein rechtes Augenlid zu öffnen. Ich werfe mich in den Nacken, spanne alles an, spreize die Zehen, presse die Lippen aufeinander, doch es hilft nichts, zwei Finger reißen mein Auge auf, mit einem Tupfer ziehen sie mein Unterlid herunter. Dann nähert sich senkrecht das Plastikfläschchen, und ich soll nach oben schauen.
Ich schiele auf meinen Nasenflügel, der nur ein verschwommener Umriss ist. Vielleicht geben sie irgendwann auf.
Nach oben, sagen sie.
Niemals.
Nach oben.
Ich sehe es kommen und falle trotzdem aus allen Wolken. Kalt erwischt es mich und brennt fürchterlich.
Sie lassen ab und tupfen, ich blinzele, Scham steigt rot meine Wangen hoch.
Braves Mädchen!, sagen sie. Tapfer! Und: Gut gemacht!
Dann schauen sie in der Akte meinen Vornamen nach und sprechen ihn vertraulich aus.
Wirklich, gut gemacht. Jetzt das andere Auge.
Als es vorbei ist, streichelt mein Vater mir über den Kopf, er tätschelt mich wie einen wohlerzogenen Hund. Er hat ein schlechtes Gewissen.
Ich will ihm vertrauen, doch mein Vater ist ein windiger Typ. Charmant und windig. Nach außen verläuft alles in geordneten Bahnen, aber was innen vorgeht, weiß man nicht genau. Er könnte ein Agent sein, es würde mich nicht wundern. Meiner Mutter traue ich erst recht nicht, ich versuche es gar nicht mehr. Sie bekommt ständig Mitleidsanfälle, die sich in Wutanfälle verwandeln und genauso abrupt aufhören, wie sie angefangen haben. Sie ist bester Laune, und plötzlich regt sie irgendeine Kleinigkeit furchtbar auf, und sie steigert sich so sehr hinein, dass sie kaum ansprechbar ist. Irgendwann ist sie erschöpft, hat genug vom Sich-ärgern und beruhigt sich.
Ich will nie wieder dorthin, bitte ich meinen Vater auf dem Heimweg, und er verspricht es mir.
Er wird das Versprechen brechen. Wir werden noch sehr oft in der Sehschule auf stapelbaren Birkenholzstühlen sitzen und warten, bis mein Name aufgerufen wird, meine Protestversuche gegen die Augentropfen werden jedes Mal ein wenig zaghafter werden, kraftloser, irgendwann werden sie völlig einschlafen, abklingen wie eine Kinderkrankheit.
Die Dioptrien-Zahl meiner Kurzsichtigkeit wird jedes Mal ein wenig mehr ansteigen. Ich werde eine Brille verschrieben bekommen, die ich nie tragen werde, weil sie hässlich ist und ich hässlich bin und mir eine Brille wirklich nicht erlauben kann. Selbst wenn es eine schöne Brille wäre, die mir gut stehen würde, und nicht dieses buntgemusterte Ding, das meine Mutter in völliger Übereinstimmung mit der Verkäuferin für das beste Modell hielt, so pfiffig, und ich es leid sein werde, weitere anzuprobieren und mein blasses, mausiges Gesicht immer und immer wieder im Spiegel ansehen zu müssen, selbst dann würde ich sie mir nicht erlauben können. Ich ziehe meine Brille nicht an.
Im Kino sitze ich freiwillig in der ersten Reihe. In der Schule auch.
Mit vorgeschobenem Kopf und gerunzelter Stirn schreibe ich von der Tafel ab, was sich erkennen lässt. Das wird irgendwann so wenig sein, dass die Schule meine Mutter auf der Arbeit anrufen wird, um ihr mitzuteilen, was sie längst weiß: dass ihre Tochter eine Brille braucht. Meine Mutter wird von einem mittelschweren Selbstmitleidsanfall ereilt werden und meinen Vater bitten beziehungsweise ihm befehlen, das zu regeln.
Mein Vater wird das regeln, indem er mir Kontaktlinsen bezahlt und sich wundert, dass ich sie mir so problemlos einsetzen kann. Ich hätte doch immer so ein Theater gemacht. Ich werde mit den Schultern zucken, weil ich es für Verschwendung halten werde, meinen Vater an meinem Innenleben teilhaben zu lassen. Er lässt mich ja auch nicht an seinem Innenleben teilhaben. Würde ich ihn an meinem Innenleben teilhaben lassen, würde ich ihm erklären, dass der entscheidende Unterschied zwischen den Augentropfen und den Kontaktlinsen darin besteht, dass ich es bin, die in mein Gesicht fasst. Dass das alles eine Frage von Kontrolle und Macht über den eigenen Körper ist, würde ich so formuliert noch nicht denken und folglich nicht sagen, selbst wenn ich meinem Vater gegenüber ehrlich wäre.
Wasch dir die Hände, wird er auf mein Schulterzucken sagen. Du musst dir immer gut die Hände waschen!
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